Der Winter hatte Sunset Valley seit ein paar Tagen schon fest im Griff. Die ganze Landschaft zeigte sich in einem strahlenden weiß, und es schneite immer noch fast ununterbrochen. Schön war, dass es absolut passte, denn der 3. Advent war vorbei und alle Welt befand sich in den Vorbereitungen für das bevorstehende Weihnachtsfest.

Ich hatte gerade gefrühstückt und stellte nun die restlichen Waffeln in den Kühlschrank, damit sie nicht verdarben. Ich hatte schon frei, denn sowohl im Wissenschaftsinstitut als auch im Lebensmittelladen gab es im Moment nichts zu tun. Da ich kein Gewächshaus besaß, konnte ich den Laden im Winter nicht mit frischem Obst und Gemüse beliefern. Für uns hier hatte ich deshalb im Herbst schon einiges eingekocht und eingefroren, und so konnten wir auch jetzt mit dem selbstangebauten Gemüse kochen. Und im Institut ging es erst wieder richtig im neuen Jahr los.

Danach räumte ich dann die Küche auf und machte mich im Haus nützlich. Line musste noch zwei Tage arbeiten, bevor auch sie Urlaub hatte. Unterbrochen wurde dieser nur am Heilig Abend, weil sie da nachmittags mit ihrem Orchester ein Weihnachtskonzert in der Stadthalle spielen würde. Ich hatte ihr schon versprochen, dass ich da selbstverständlich unter den Zuhörern sein würde.

Nachdem ich mit dem Haushalt soweit fertig war, schaute ich nach der Post. Und hoffte, dass sich nicht zu viele Rechnungen darunter befanden. Ich kontrollierte die Briefe durch und freute mich wahnsinnig, als ich eine Weihnachtskarte meiner Brieffreundin Vilja Sommer entdeckte. Vilja hatte ich noch nie gesehen, aber sie war eine Freundin einer Bekannten von mir, und nachdem sie mitbekommen hatte, dass mir das schwierige Gespräch mit meinen Eltern bevorstand, hatte sie mir einen wunderbaren Brief geschrieben. Ihre aufmunternden Worte hatten mir damals sehr gut getan, und seitdem hatte sich eine nette Brieffreundschaft entwickelt. Ihre Karte hatte ich bereits gekauft, aber noch nicht geschrieben. Das wollte ich jetzt gleich tun, damit die dann auch pünktlich bei Vilja ankam.

Am darauffolgenden Samstag ging ich mit Pauline auf unseren kleinen, aber feinen Weihnachtsmarkt. Line war Buddhistin, aber nicht streng gläubig. Sie feierte keinen ihrer Feiertage und hatte auch sonst mit ihrem Glauben nicht mehr viel am Hut. Aber auch Weihnachten war bisher ziemlich an ihr vorbeigegangen. Auch in der Zeit, als sie mit Hank zusammen gewesen war, hatte sie nicht viel von Weihnachten mitbekommen. Was daran lag, dass Hank Atheist war.

 

Ich selbst hatte auch nicht gerade die schönsten Weihnachtserinnerungen. Die Festtage mit meinen Eltern zu verbringen war alles andere als festlich gewesen. Mit schaudern erinnerte ich mich daran, wie steif die Essen verliefen, wie kühl ich auch an diesen Tagen auf meine Aufgabe als Firmeninhaber vorbereitet worden war. Das Geschäft war auch hier meistens das Thema Nummer eins gewesen, von schöner Familienfeier also keine Spur.

 

Dieses Jahr sollte das endlich alles anders sein, und so hatte ich Line dazu eingeladen, zusammen auf den Weihnachtsmarkt zu gehen. Natürlich hätte es auch sein können, dass sie lieber mit einem dieser Typen auf den Weihnachtsmarkt gehen wollte, mit denen sie sich in der Vergangenheit getroffen hatte, doch sie hatte sofort zugestimmt, mit mir gemeinsam dorthin zu gehen.

„Wow, das sieht ja toll aus!“, sagte Line, als wir auf dem Weihnachtsmarkt angekommen waren.

„Gefällt es dir?“, fragte ich meine Mitbewohnerin, und sie nickte.

„Das ist ja ein richtiges Wunderland hier!“, strahlte sie. „Da ist mir bisher ja ganz schön was entgangen!“

„Sag ich doch! Komm, schauen wir mal, was es hier so alles zu bestaunen gibt!“, forderte ich sie auf und wir schlenderten auf den ersten Stand zu.

An einem Stand, an dem es warme Winteraccessoires und sonstige Kleidung gab, blieben wir stehen.

„Eigentlich wäre eine Mütze gut. Meine Ohren frieren schon ab!“, lachte Line und besah sich die Auslage an Wintermützen an.

„Dann kaufe dir doch eine!“, ermutigte ich sie, "Hier hat es schöne Mützen".

„Wie findest du das?“, fragte sie, nachdem sie ein paar Mützen angezogen hatte.

„Steht dir sehr gut!“, sagte ich und sah sie bewundernd an. Irgendwie sah sie in allem gut aus, ich konnte mich nicht daran erinnern, dass das jemals anders gewesen wäre.

„Okay, dann nehme ich die mit“, beschloss sie und ging an die Kasse, um zu bezahlen.

Nachdem wir schon eine Weile auf dem Markt waren, bekamen wir so langsam Hunger und ich holte uns jeweils einen Hamburger und einen Glühwein zum Aufwärmen.

Ein Hamburger war zwar nicht gerade weihnachtlich, aber er schmeckte eben.

Der nächste Stand, der unsere Aufmerksamkeit erregte, war einer mit Pflanzen, Zweigen und Türkränzen. Natürlich besah ich mir genau, was es hier alles zu kaufen gab, denn mit Pflanzen kannte ich mich ja nun ein wenig aus.

„Hier gibt es tolle Sachen!“, sagte ich. „Wie fändest du so einen Kranz bei uns im Haus?“

„Das sieht sicher sehr hübsch aus“, bestätigte auch Pauline.

„Okay, dann nehmen wir den mit. Und was ist mit so einem Mistelzweig?“, grinste ich sie an und zeigte nach oben, wo am Dach des Standes einige Mistelzweige angebracht waren.

„Die Mistelzweige gibt es mit verschiedenen Bändern“, pries die Verkäuferin sofort ihre Ware an.

„Schön. Dann geben sie uns einen mit einem roten Band“, sagte ich und ging zur Kasse.

„Du bist echt unmöglich“, grinste Line, als ich an ihr vorbei ging, „Glaube bloß nicht, dass ich mich mit dir da drunter stelle!“. Ich grinste zurück, bezahlte, und nahm dann die Tüte mit dem Kranz und dem Mistelzweig entgegen.

Der nächste Stand hatte Bücher zu allen möglichen Themen, doch hauptsächlich Weihnachtslektüre. Lines Blick blieb an einem großen Buch mit einem Schmetterling haften, das wohl ein Tagebuch war.

„Das Buch ist ja wunderschön!“, seufzte sie auf und fragte den Verkäufer nach dem Preis.

„Dieses wunderschöne Buch kostet heute nur 60 §“, antwortete dieser und Line erschrak.

„Oh!“, machte sie und wandte sich mir zu. „Das ist zu viel, so viel kann ich doch nicht für ein einzelnes Tagebuch ausgeben! Da kann es noch so schön sein!“. Sie besah sich noch einmal aufseufzend das Buch, bevor sie zu mir sagte, dass sie mal schnell wohin müsse und gleich wieder da war.

 

Das war meine Gelegenheit, das Weihnachtsgeschenk für meine Mitbewohnerin zu kaufen. Ich hatte ihren Blick gesehen, den sie dem Buch zugeworfen hatte, und kurzerhand kaufte ich es für sie. Ich steckte es in die Tüte zu dem Kranz, und als Line wieder da war, war alles schon vorbei und wir gingen weiter, ohne dass sie Verdacht geschöpft hatte.

 

Als wir dann unsere Füße schon fast nicht mehr spürten, weil sie scheinbar zu Eisklumpen gefroren waren, gingen wir dann mit unseren Einkäufen nach Hause. Und beide waren wir der Meinung, dass sich der Besuch des Weihnachtsmarktes gelohnt hatte.

Gleich am nächsten Tag machte ich mich daran, eine Lichterkette am Haus anzubringen. Es war jetzt wirklich höchste Zeit, unser Haus zu dekorieren. Außerdem hängten wir den Kranz und den Mistelzweig auf, und ich holte noch die ein oder andere weihnachtliche Deko, die ich von meinem Elternhaus mitgebracht hatte. Viel war es nicht, aber doch besser als nichts.

 

Den Heiligen Abend würden Line und ich hier bei uns verbringen. Sie flog erst nach den Feiertagen zu ihrer Familie, weil für die Weihnachten ja keine Bedeutung hatte. Ich würde am 2. Feiertag zu meinen Eltern gehen und hätte diesen Tag am Liebsten schon hinter mir. Am 1. Feiertag waren wir bei Mandy eingeladen. Der Kontakt zu Bebe war inzwischen komplett eingeschlafen, weshalb wir uns auch an Weihnachten nicht sehen würden. 

Natürlich musste auch ein Christbaum sein, den ich bei einem Händler in der Stadt kaufte. Es dauerte etwas, bis ich einen schönen gefunden hatte, ich war einfach spät dran und es gab nicht mehr soviel Auswahl. Aber dann fand ich doch noch ein schönes Bäumchen.

Der Heilige Abend kam schnell, und Line und ich schmückten den von mir gekauften Baum. Die Baumdeko hatten wir uns erstmal kaufen müssen, weil wir das bisher nicht besessen hatten. Aber das Ergebnis war dann wirklich schön.

„Gabe, der Baum sieht ja wirklich toll aus!“, sagte Line nach getaner Arbeit.

„Ja, ich finde auch, dass wir das gut hinbekommen haben!“, sagte ich und blickte noch mal auf unser Werk. „Dann können wir uns jetzt für dein Konzert fertig machen, oder?“, fragte ich sie, und Line stimmte mir zu.

 

Wir gingen gemeinsam zu der Halle, und ich kam richtig zur Ruhe, als ich Line und dem restlichen Orchester dabei zuhörte, wie sie bekannte Weihnachtslieder spielten.

Nachdem wir wieder zu Hause waren, machten wir uns daran, unser Festessen zu kochen. Es würde keine Gans geben, und auch sonst nichts typisch Weihnachtliches. Gans mochte ich nicht besonders und außerdem hatte es das bei uns jedes Jahr wieder gegeben. Weil es eben Tradition war, wie mein Vater zu sagen pflegte. Blöde Tradition! Ich wusste, dass auch meine Mutter nicht gerade gerne Gans aß, und doch hatte das Jahr für Jahr sein müssen. Line mochte Gans überhaupt nicht und war deshalb natürlich sofort erleichtert gewesen, als ich den Vorschlag gemacht hatte, etwas anderes zu kochen. So gab es jetzt also einen leckeren Salat, für den Line zuständig war, und ein Risotto, welches ich zubereitete.

Als sie mit dem Salat fertig war, stellte sie ihn auf den Tisch und sagte zu mir:

„Gabriel, der Salat ist fertig, ich gehe mich dann mal umziehen“.

„Alles klar!“, sagte ich und kochte weiter, damit auch das Risotto fertig wurde.

Als das Risotto auf dem Herd stand und nur noch cremig werden musste, ging auch ich in mein Schlafzimmer um mich umzuziehen. Ich überlegte, was ich anziehen sollte. Ich war ja nicht gerade der leidenschaftliche Anzugträger, war ich nie gewesen und würde ich wohl auch nie sein. Aber ich ahnte, dass sich Line jetzt besonders nett zurecht machen würde. Sie war immerhin schon einige Zeit in ihrem Schlafzimmer und ich wollte ihr eigentlich in nichts nachstehen. Außerdem war heute ein besonderer Abend. Nicht nur das Fest an sich, sondern auch die Tatsache, dass ich diesen Abend mit ihr alleine verbringen würde. Leichte Nervosität machte sich bei dem Gedanken daran breit, aber schließlich wusste ich dann, was ich anziehen würde.

Ich wählte den Anzug, den ich auch an meiner Geburtstagsparty getragen hatte. Zwar ohne Krawatte oder Fliege, denn damit fühlte ich mich wirklich nicht wohl, aber so ging es ja auch.

Gerade, als ich in die Küche ging, um nach dem Essen zu schauen, kam auch Line herein.

„Gott, Line!“, sagte ich zu ihr und starrte sie an. Sie sah einfach wunderschön aus! Ich wusste selbst, dass es völlig blöd war, aber mein Herz schlug bei ihrem Anblick schneller. Sie sah an sich herunter.

„Was? Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte sie und hatte wohl meinen Ausruf falsch verstanden.

„Nein! Alles ist in bester Ordnung! Du siehst… toll aus!“, sagte ich.

„Du aber auch!“, sagte sie und besah sich meinen Anzug. „Weißt du, ich weiß ja, dass du dich in einem Anzug nicht wohl fühlst, aber nichtsdestotrotz steht dir so etwas auch sehr gut“, meinte sie. Ihr Kompliment freute mich sehr. 

„Danke“, konnte ich nur sagen. Kurze Zeit sagten wir nichts, sondern sahen uns nur an, bevor ich dann fragte:

„Wie wäre es jetzt mit unserem Festessen?“.

„Gute Idee! Ich habe schon großen Hunger!“, lachte sie. Also begannen wir, den Tisch zu decken.

Wir ließen uns unser Essen dann schmecken und unterhielten uns über ihre Musik und meinen Garten, über das Kochen und China, über alles mögliche sonst, nur nicht über die Firma oder den Zwist mit meinen Eltern. Und das tat so gut!

Es war richtig friedlich, der Abend verlief sehr entspannt und ich fühlte mich absolut wohl. Aus dem Radio kamen sanfte Weihnachtsliederklänge, die diese friedliche Atmosphäre noch unterstrichen. 

Nach dem Essen machten wir die Bescherung, und ich gab Line zuerst mein Geschenk an sie. Ich war jetzt schon gespannt, was sie sagen würde, wenn sie das Buch vor sich sah.

„Gabe, du bist verrückt!“, schrie sie vor Entzückung auf, als sie das Buch vor sich sah. Dann fiel sie mir um den Hals, und ich war so überrascht, dass ich im ersten Moment gar nichts sagen konnte. Ich hielt sie einfach umfangen.

„Dann erübrigt sich wohl die Frage, ob dir das Geschenk gefällt, oder?“, lachte ich sie dann an.

„Es ist wundervoll! Du hättest aber nicht so viel Geld für mich ausgeben dürfen!“, sagte sie.

„Da mache dir mal keine Sorgen“, sagte ich zu ihr.

"Danke, Gabe! Damit hast du mir eine riesige Freude gemacht!"

"Und genau so wollte ich das", gab ich zurück und freute mich, weil sie sich so freute.

„Jetzt bist du dran!“, sagte sie dann und holte ein Paket, das sie mir überreichte.

Ich riss das Geschenkpapier auf und beförderte eine große Gewürzsammlung zutage, die hübsch verpackt in einer runden Dose war.

„Damit du auch weiterhin so wunderbar kochen kannst!“, sagte Line zu mir, während ich schon an den einzelnen Gewürzen roch.

„Vielen Dank, Line! Das ist einfach toll! Das hier ist echter Safran, oder?“, fragte ich völlig angetan.

„Ich hoffe es, denn das hat mir die Verkäuferin versichert“, lachte sie.

Nach der Bescherung nahm ich Line in den Arm und sagte:

„Wie wäre es, wenn wir zwei noch ein paar Schritte tanzen würden?“. Line sah mich verblüfft an.

„Gehört das zu einem traditionellen Weihnachtsfest dazu?“, fragte sie.

„Nein, aber genau deshalb würde ich jetzt gerne mit dir tanzen“, sagte ich.

„Sehr gerne“, kicherte Line, und ließ sich dann von mir führen.

„Ich wusste gar nicht, dass du so gut tanzen kannst“, meinte sie nach einer Weile.

„Na ja, gut ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber ich habe als Teenager eine Tanzschule besucht“.

„Da kommen ja heute Dinge von dir raus, die ich noch gar nicht wusste“, meinte Line.

„Siehst du mal, für was das hier alles gut ist“, lachte ich. „Du tanzt übrigens auch sehr gut!“, gab ich das Kompliment zurück.

„Dankeschön!“, freute sie sich.

Und so tanzten wir beide also im Schein der Christbaumbeleuchtung an diesem Heilig Abend, der so anders war als alle, die ich bisher erlebt hatte. Überhaupt die ganze vorangegangene Weihnachtszeit. Sie war so viel schöner gewesen als die Jahre davor.

Natürlich wusste ich, wem ich das zu verdanken hatte. Der Grund, dass ich endlich mal einen schönen Heilig Abend feierte, drehte sich gerade von mir geführt an meiner Hand. Eigentlich hatte ich ihr zeigen wollen, wie wir Christen Weihnachten feierten, und jetzt war es so, dass sie mir gezeigt hatte, wie schön dieses Fest sein konnte.

Auch wenn ich nicht wusste, wie das hier weiter gehen würde, so war mir jedoch klar, dass ich an diesem Abend ein unvergessliches Weihnachtsfest erlebte.

 

 

 

Frohe Weihnachten!

 

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