Smell like Teen Spirit

Megara

Die letzten 20 Minuten waren wie in einem Nebel vergangen. Ich wusste gar nicht mehr richtig, wie ich in das Polizeiauto gekommen war, erinnerte mich nur dunkel daran, dass ich nach dieser Nachricht fast in Ohnmacht gefallen wäre und ich nur dank des beherzten Eingreifens des jüngeren Polizisten, dessen Namen mir schon wieder entfallen war, nicht hart auf dem Boden gelandet war. Ich erinnerte mich, dass ich ein Glas Wasser getrunken hatte, Sam voller Sorge vor mir gesessen war, ich ihn gebeten hatte, bei den Kindern zu bleiben und jetzt saß ich also hier. Ich war auf dem Weg nach Sim City, in das dortige Krankenhaus, in das Manu sofort gebracht worden war. Immer wieder pochten diese Worte in meinem Kopf: Manu war niedergestochen worden!

Ich zitterte immer noch und hatte eine Angst um Manu, die ich gar nicht in Worte fassen konnte. Es konnte doch nicht sein, dass das passiert war! Einfach unmöglich, dass er in Lebensgefahr schwebte. Mir war so schlecht bei dem Gedanken daran, dass ich ihn verlieren könnte, dass ich schon fast die Polizisten bat, den Wagen anzuhalten, damit ich mich übergeben konnte. Doch ich war wie erstarrt, konnte weder reden noch mich bewegen.

Dann hörte ich, wie die Polizisten per Funk Kontakt zu dem Krankenhaus aufnahmen.

"Gibt es etwas Neues von Herrn von Hohenstein?", hörte ich den Älteren fragen. Ich hatte keine Ahnung, mit wem er sprach, doch eine weibliche Stimme antwortete:

"Er ist immer noch im OP"

"Danke", beendete der Polizist das Gespräch, dann funkte er vermutlich in sein Polizeirevier.

"Wir sind auf dem Weg nach Sim City, wir haben die Gräfin dabei. Gibt es Neuigkeiten zum Täter?", fragte er nun einen Kollegen.

"Er hat sich gestellt"

"Was?"

"Ja, völlig überraschend ist er hier vor etwa einer halben Stunde eingetroffen. Er wird gerade verhört". Die beiden Polizisten sahen sich kurz an, dann warf mir der Fahrer einen Blick durch den Rückspiegel zu, den ich jedoch nur kurz erwiderte, bevor ich wieder aus dem Fenster sah.

Diese ganzen Informationen kamen kaum mehr in meinem Gehirn an. Gernot hatte sich gestellt. In Ordnung. Das änderte jedoch nichts an Manus Zustand, an dem Gernot schuld war. Wenn Manu starb, würde er nicht wieder lebendig werden, nur weil Gernot im Gefängnis saß. 

Die Fahrt ins Krankenhaus war mir ewig vorgekommen. Die Zeit schien stillzustehen, während wir über die Autobahn gerast waren. Ich fühlte mich, als hätte man mich betäubt. Ich konnte nicht einmal weinen, wie mir auffiel, als wir dann endlich in Sim City angekommen waren. Vor dem Krankenhaus hielten die Polizisten an.

"Gräfin von Hohenstein, wir haben noch ein paar Dinge hier drin zu regeln. Kommen sie zurecht oder brauchen sie einen Arzt oder sonstige Hilfe?". Der Jüngere sah mich besorgt an. Vielleicht reagierte ich ja auch ganz anders, als die beiden es sonst in so einer Situation gewohnt waren, aber ich konnte kaum atmen, geschweige denn reden oder gar schreien.

"Es geht schon, danke", sagte ich dann doch krächzend, und meine Stimme hörte sich furchtbar an. Alles hatte sich verändert, selbst das.

"Melden sie sich am Empfang, alles weitere wird ihnen dort gesagt werden. Wegen des Täters hätten wir noch die eine oder andere Frage an sie. Wir würden dann in nächster Zeit auf sie zukommen"

"In Ordnung", sagte ich emotionslos. Sie wollten mich also zu Gernot befragen. Natürlich. Sie wollten wissen, was der Kerl für ein Motiv gehabt hatte. Das der vielleicht auch einfach nur irre und gemeingefährlich war, galt ja nicht. Ich war gerade noch so aus seinen Fängen entrissen worden, dank Manu! Aber nun lag er hier, lebensgefährlich verletzt...

Ich betrat dann das Krankenhaus und ging an den Empfang. Ich wollte endlich wissen, wie es um Manu stand. Ich betete, dass er noch lebte und ich jetzt nicht die Nachricht bekommen würde, vor der ich am meisten Angst hatte.

 

Am Empfang des Krankenhauses stand eine Schwester oder die Empfangsdame, das konnte ich in der Aufregung nicht unterscheiden, und ich eilte auf sie zu.

"Entschuldigen sie, mein Mann Emmanuel von Hohenstein, ist heute Abend hier schwer verletzt eingeliefert worden. Wo ist er?", sagte ich atemlos zu ihr. Ich rechnete damit, dass sie nun in ihrem System danach suchen würde, doch sie wusste anscheinend Bescheid.

"Frau von Hohenstein, ihr Mann ist noch im OP. Sie können im Flur vor den OP`s warten, bis ihnen ein Arzt genaueres sagen kann"

"Was ist denn nur geschehen?", fragte ich zitternd. "Was fehlt meinem Mann?"

"Es tut mir leid, das kann ihnen nur ein Arzt sagen. Warten sie vor den OP`s, bis ein Arzt kommt, der sie dann über den Gesundheitszustand ihres Mannes aufklären kann"

"Aber...", versuchte ich, mehr aus dieser Frau herauszubekommen. Ich war mir sicher, dass sie mehr wusste.

"Ich darf ihnen nicht mehr sagen. Kommen sie, ich zeige ihnen, wie sie zu den OP`s kommen, ich war gerade selbst auf dem Weg dorthin". Ich musste einsehen, dass sie mir keine weiteren Auskünfte geben konnte, also ging ich mit ihr mit.

"Hier können sie warten", sagte sie dann in einem hell beleuchteten Flur im hinteren Teil des Krankenhauses. Hier gingen gleich mehrere der breiten Krankenhaustüren in Operationssääle ab. Und in einem davon lag jetzt also Manu, während eine Ärzteschar um sein Leben kämpfte. Mir wurde wieder schlecht. Außerdem tanzten weiße Punkte vor meinen Augen und ich hatte Angst, wegen dieser ganzen Anspannung einfach in Ohnmacht zu kippen, wie ich es zu Hause ja schon fast getan hätte.

Da saß ich nun und starrte an eine kühle Krankenhauswand. Ich fühlte mich selbst irgendwie nicht mehr, konnte nicht sagen, ob ich Hunger hatte, ob ich müde war, etwas trinken sollte oder mir irgendetwas weh tat. Ich war wie tot. Einzig dieser Höllenschmerz, der in meinem Körper wütete, zeigte mir, dass ich nicht einfach leblos umgekippt war, als mir die beiden Polizisten diese Nachricht überbracht hatten.

 

Manu, du musst es schaffen! Ich flehte diese Worte immer und immer wieder still in mich hinein.

Endlich, nach endlosen Minuten, trat ein Arzt aus einem der OP`s. Weil das vielleicht einer war, der bei Manu gewesen war, stand ich sofort wie von der Tarantel gestochen auf und sagte:

"Entschuldigen sie, mein Name ist von Hohenstein und mein Mann wird gerade operiert. Wissen sie, wie es ihm geht?"

"Ah, Frau von Hohenstein!", begrüßte mich der Mann. "Dr. Stefan Margon, ich war an der Operation bei ihrem Mann beteiligt". Mir fiel ein Stein vom Herzen. Endlich stand hier jemand vor mir, der mir sagen konnte, wie es Manu ging!

"Was fehlt ihm? Wird er das alles überleben? Warum musste er operiert werden?", stellte ich dem Arzt sofort meine dringlichsten Fragen.

"Nun, dass er mit einem Messer attackiert worden ist, wissen sie vermutlich schon", stellte der Arzt fest.

"Ja, das hat mir die Polizei schon gesagt"

"Gut", fuhr Dr. Margon fort. "Es ist so: Das Messer wurde schräg in den linken, mittleren Rückenbereich gestoßen. Die linke Niere wurde voll getroffen, wir konnten sie nicht retten und mussten sie entfernen". Wieder schwankte mir der Boden unter den Füßen. Ich stellte mir vor, wie Gernot sein verdammtes Messer in Manu gestoßen hatte, und ich hatte das Gefühl, als würde mein komplettes Blut in die Füße rauschen.

"Die Niere... sie mussten sie entfernen? Aber...", stammelte ich verwirrt.

"Ein Mensch kann gut mit einer Niere leben, das wäre das geringste Problem. Viel größere Probleme macht uns die Tatsache, dass ihr Mann durch den Angriff einige innere Blutungen hatte, die wir nun hoffentlich alle stillen konnten. Die Milz wurde angeritzt, auch sie mussten wir vernähen, zudem macht uns die verbliebene Niere Sorgen. Sie arbeitet nicht so, wie sie sollte. Außerdem hat er einiges an Blut verloren, weshalb er nun intravenös Blut bekommt. Ihr Mann steht nun unter Intensivüberwachung, denn wir können ein Organversagen nicht ausschließen".

Ich sah den Arzt geschockt an. Hatte er gerade >Organversagen< gesagt?

"Seine Organe könnten... versagen...?", stammelte ich deshalb auch ängstlich.

"Wir werden alles tun, damit das nicht passiert", versicherte mir der Arzt.

"Ich möchte ihn sehen", sagte ich dann. Seit Stunden war ich unterwegs, bekam nur bröckchenweise meine Auskünfte, dabei hatte ich jetzt nur noch einen Wunsch: Zu Manu zu gehen.

"Er wird im Moment noch vernäht. Außerdem haben wir ihn in ein künstliches Koma gelegt, damit seine Organe nur minimal arbeiten müssen. Sobald er auf der Intensivstation ist, geben wir ihnen Bescheid". Mit diesen Worten verschwand dann der Arzt und ließ mich allein zurück.

Wie lange ich noch mal hatte warten müssen, wusste ich nicht. Doch irgendwann hatte man mir mitgeteilt, dass ich nun zu meinem Mann gehen konnte.

 

Mit zitternden Knien betrat ich das Zimmer, in dem Manu allein lag.

Und dann, endlich, stand ich vor ihm.

"Manu", flüsterte ich sofort, und bei seinem Anblick kamen nun doch die Tränen. Blass und krank lag er in dem Krankenhausbett, ihn so liegen sehen zu müssen, kostete mich nun die letzten Kräfte. 

Die Geräte piepten, über allem lag eine völlig bedrückende Atmosphäre. Wie gerne hätte ich Manu einfach mit nach Hause genommen. Gesund und munter, ohne diese Maschinen, ohne die Sterilität eines Krankenhauses und natürlich ohne die Angst haben zu müssen, er könnte sterben.

Ich hörte seinen Atem, ein Geräusch, das mir in den vergangen Jahren so vertraut geworden war. Es war schon fast selbstverständlich geworden, dieses Geräusch nachts neben mir zu hören. Aber nichts war selbstverständlich, jede einzelne Minute, die man mit seinen Lieben verbringen konnte, war kostbar.

"Manu, werde wieder gesund", flüsterte ich ihm zu. "Ich liebe dich. Ich brauche dich!", beschwor ich ihn. "Bitte, bleib` bei mir". Ich schluchzte auf, und ließ meinen Tränen nun endlich freien Lauf.

Ich setzte mich auf einen Stuhl. Immer wieder kam ein Arzt oder eine Schwester herein und sah nach dem rechten. Ich wurde gefragt, ob ich etwas essen wollte, doch immer noch hatte ich kein Gefühl für meinen Körper und verneinte jedesmal. Irgendwann war ich sogar etwas eingenickt, und als ich aufwachte, war es bereits morgens. Obwohl ich mich kaum von ihm trennen mochte, verließ ich das Krankenhaus dann doch, um zu Hause Kleidung und Toilettenartikel für Manu zu holen und natürlich auch, um meiner Familie den aktuellen Stand zu sagen. Außerdem mussten wir uns überlegen, wie es weitergehen sollte. Und zwar mit allem, Manu würde jetzt lange ausfallen und in allen Bereichen mehr als fehlen. Wieder schluckte ich hart, riss mich aber zusammen und ließ mich dann mit einem Taxi zu unserer Firma fahren, wo ich das Auto holte, das dort immer noch parkte, und fuhr dann kraftlos und übernächtigt nach Hause.

Wegen des morgendlichen Berufsverkehrs und der daraus resultierenden Staus, erreichte ich leider unser Haus erst, als die Kinder schon in der Schule waren. Dabei hatte ich gerade mit ihnen über das alles reden wollen, jetzt musste ich das bis zum Nachmittag verschieben.

 

Sam war schon arbeiten, wir hatten während meiner Heimfahrt am Telefon gesprochen und er war im Bilde. Meine Eltern erreichte ich auf dem Handy, sie waren nur kurz in der Stadt und würden so schnell es ging kommen. Natürlich löcherten auch sie mich mit Fragen, die ich ihnen so gut es ging beantwortete. Und jetzt, da ich das alles aussprach, wurde mir noch bewusster, in welcher Lage sich Manu befand. Er schwebte nach wie vor in Lebensgefahr.

 

Da ich wusste, dass ich schon seit Stunden nichts mehr gegessen hatte und ich gerade jetzt bei Kräften bleiben sollte, machte ich mir ein kleines Frühstück. Auch wenn das Hungergefühl nach wie vor nicht vorhanden war.

Während ich dann meinen ersten Bissen nahm, rumorten tausend Gedanken in meinem Kopf. Ich sah Manu in diesem Bett liegen, hörte diese Geräusche, hatte immer noch den Krankenhausgeruch in der Nase. Dann schoben sich Bilder in meinen Kopf, keine Erinnerungen, sondern meine grausame Vorstellung davon, was passiert war, als Manu die Firma verlassen hatte. Gernot musste auf ihn gewartet haben, irgendwo versteckt. Und als Manu dann aus dem Gebäude getreten war, war er hinterrücks und feige aus seinem Versteck gekommen und hatte ihm das Messer in den Rücken gerammt...

 

Ich hielt inne, denn ich konnte nichts essen. Mir war so schlecht, dass ich auf die Toilette rannte und mich übergab.

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Als ich mich wieder soweit erfrischt hatte, ging ich auf wackeligen Beinen ins Wohnzimmer. Dort betrachtete ich unser Hochzeitsbild. Ich schluckte hart. Emmanuel. Unser Hochzeitstag war so wundervoll gewesen, die Jahre mit ihm waren wundervoll gewesen. Ich hatte noch lange nicht alles mit ihm erlebt, was wir uns erträumt hatten. Wir wollten irgendwann mehr Zeit für Reisen haben, er mit seiner Fotoausrüstung im Gepäck, und ich, die die neuen Eindrücke in meinen Romanen verarbeiten konnte. Wir wollten unsere Kinder aufwachsen sehen, hatten den verrückten Traum gehabt, unsere Produkte bis nach Amerika zu exportieren. Und jetzt lag er im Krankenhaus.

 

Wieder wurde ich durch einen Weinkrampf geschüttelt und ich ließ mich auf das Sofa sinken. Das alles war ein Albtraum.

Völlig kraftlos legte ich mich dann hin, wo die letzte Nacht ihren Tribut forderte und ich erschöpft einschlief.

Ich wurde erst wieder durch leise Schritte wach. Ich hatte wirres Zeug geträumt und brauchte tatsächlich ein paar Sekunden, bis ich wieder soweit in der Realität war.

"Ich wollte dich nicht wecken", flüsterte mein Vater, "Schlafe noch ein wenig, ich gehe noch mal nach draußen". Doch ich erhob mich und sagte:

"Nein, schon gut. Ich bin wach". Ich setzte mich langsam auf.

Mein Vater setzte sich neben mich auf die Couch.

"Gibt es etwas Neues von Emmanuel?", fragte er mich sofort. Ich erschrak, denn es könnte ja sein, dass die Klinik versucht hatte, mich zu erreichen, während ich geschlafen hatte. Ich schaute also schnell auf das Display des Handys, doch es gab keine neuen Nachrichten, auch keine entgangenen Anrufe. Also steckte ich das Handy wieder weg und antwortete:

"Nein, nichts. Aber ich fahre nachher wieder zu ihm nach Sim City". Meine Stimme brach fast weg und mein Vater sah mich besorgt an.

"Mein Mädchen, schaffst du das überhaupt? Du siehst so schlecht aus, und ich denke, du solltest jetzt erst mal selbst wieder zu Kräften kommen, bevor du diese weite Strecke fährst". Ich schluckte.

"Mir geht es gut", log ich.

"Wann hast du das letzte Mal was gegessen?", fragte mein Vater weiter.

"Ich... ich habe es probiert, aber es ging nicht", sagte ich dann und er seufzte auf.

"Ich verstehe das ja, aber so kann ich dich unmöglich nach Sim City fahren lassen. Schlafe noch mal eine Runde, die Kinder kommen nachher von der Schule und sind bestimmt froh, dich zu sehen"

"Aber ich kann hier doch nicht herumsitzen oder sogar seelenruhig schlafen, während er dort... mit dem Leben... kämpft". Meine Stimme hatte bei meinen letzten Worten gezittert, und ich begann wieder zu weinen.

"Megara", sagte mein Vater und nahm mich spontan in den Arm. "Wir stehen das jetzt gemeinsam durch. Und Emmanuel wird es schaffen! Die Ärzte tun, was sie können"

"Ja", schluchzte ich an seiner Schulter und fühlte mich wie ein kleines Mädchen. Hilflos, aber beschützt.

Ich trocknete meine Tränen ab.

"Vielleicht habst du recht. Aber ich sitze hier wie auf heißen Kohlen. Die Kinder wissen ja auch noch nichts, das wird auch sehr schwer sein, ihnen das alles nachher zu sagen. Wie soll ich das nur überstehen?" Mein Vater sah mich an.

"Ich bin ja da, und Mama wird auch bald vom Einkaufen zurück sein, wir schaffen das schon. Und sicher wird das schwer für die Kinder, da braucht man nichts schönreden". Ich schluckte. Ja, da brauchte man wirklich nichts schönreden. Das Gespräch würde hammerhart werden.

"Ich weiß. Und schon allein für das Gespräch brauche ich viel Kraft. Ich glaube, ich mache mich jetzt mal frisch, davor rufe ich aber noch mal im Krankenhaus an"

"Ja, mach das", sagte mein Vater sofort.

Das Telefongespräch hatte dann allerdings keine neuen Erkenntnisse gebracht. Manus Zustand war leider immer noch unverändert. Aber was hatte ich erwartet? Ich ging dann unter die Dusche, und das warme Wasser tat mir gut. Nach dem Duschen legte ich mich dann wirklich noch ein bisschen ins Bett. Und obwohl ich es nie für möglich gehalten hätte, schlief ich dann nach einiger Zeit sehr erschöpft dann doch noch ein.

Als ich wieder erwachte, stellte ich mit Schrecken fest, dass es bereits Nachmittag war. Die Kinder dürften schon einige Zeit zu Hause sein. Ich zog mir also schnell frische Sachen an und lief eilig in das Esszimmer. Dort waren die Mädchen und sprachen aufgeregt miteinander, Sven sah ich nicht. Vielleicht war er unterwegs?

"Maddy, meine Süße", sagte ich und nahm die ältere der Zwillinge in den Arm.

"Mami!", sagte sie und legte ihre Ärmchen um meinen Hals. Ich war überglücklich, nun wenigstens die Mädchen zu sehen.

Auch Viola kam sofort auf mich zugestürmt.

"Wo ist denn Papa? Ist er in Sim City geblieben?", fragte sie mich, und da wusste ich, dass sie noch nicht Bescheid wussten. Sie gingen davon aus, dass Manu in Sim City geblieben war, wie er das in den letzten Jahren regelmäßig getan hatte. Anstatt einer Antwort zu geben, fragte ich nur:

"Wisst ihr, wo euer Bruder ist?". Es wäre gut, wenn er auch sofort bei dem Gespräch dabei sein könnte. Schon allein die Vorstellung, dass ich das alles zweimal erzählen müsste, machte mir Angst. 

"Der ist draußen im Garten mit Opa". Natürlich, darauf hätte ich auch selbst kommen können.

Meine Mutter, die ebenfalls in das Zimmer getreten war, bot sich sofort an, die beiden hereinzurufen. Die Mädchen sahen mich erwartungsvoll an. Klar, sie spürten jetzt auch, dass etwas nicht in Ordnung war.

Sven und mein Vater kamen in das Esszimmer, nachdem sie sich im Bad die Hände gewaschen hatten. Mein Vater sah sorgenvoll aus, doch auch mein Sohn machte eine trübe Miene. Wusste er schon etwas?

"Was gibt es, Mum?", fragte mich Sven etwas erstaunt, und seine Stimme war während dieser vier Worte von Hoch zu krächzend Tief dann wieder zu Hoch gewandert. Sein Stimmbruch hatte nun richtig begonnen. Aber anscheinend wusste er noch nicht Bescheid.

"Setzt euch bitte", sagte ich, "Ich erkläre es euch".

Ich wartete, bis alle saßen. Dann atmete ich noch einmal tief ein und aus, sah von einem Gesicht zum anderen, während ich erwartungsvoll angesehen wurde. Meine Kinder wussten überhaupt nicht, was nun kommen würde. Und ich überlegte fieberhaft, wie ich so etwas erklären sollte. Wie sagte man seinem Kind, dass sein Vater lebensgefährlich verletzt worden war? Sagte man das überhaupt? Sollte ich nun schwammig etwas von einem Krankenhausaufenthalt erzählen, ohne auf die lebensbedrohenden Details einzugehen? Irgendwann, nach gefühlten Stunden, wandte ich mich dann aber doch an meine Kinder.

"Viola, du wolltest vorhin wissen, ob Papa heute in Sim City geblieben ist", begann ist mit wackeliger Stimme.

"Ja. Er schläft doch bestimmt wieder bei Tante Tatjana, oder?", wollte sie wissen. Ich sah zuerst auf den Tisch, dann blickte ich hilfesuchend meine Eltern an. Mein Vater nickte mir leicht zu und ermunterte mich so, weiterzureden.

"Nein, er ist nicht bei eurer Tante", sagte ich dann.

"Nicht? Wo ist er denn dann?", fragte mich Maddy mit großen Augen.

"Was soll das denn heißen, Mum?", fragte mich Sven alarmiert, während Viola fragte:

"Was ist denn los?". Ich merkte, wie bei Sven schon die Alarmglocken läuteten. Er war schon zu groß, als das ich ihm lange etwas vormachen konnte. Die Mädchen tappten dagegen immer noch völlig im Dunkeln.

 

Ich schluckte hart und sah meinen Sohn an.

"Er ist im Krankenhaus", sagte ich dann leise.

Madeleine sah mich geschockt an.

"Ist es etwas Schlimmes?", wollte sie dann wissen, und das war der Moment, an dem ich selbst um meine Fassung ringen musste. Ich sagte mir immer wieder, dass ich die Kinder nicht beunruhigen durfte und atmete ein paar mal tief ein und aus.

Ich riss mich soweit zusammen, dass ich wusste, bei den nächsten Worten nicht sofort losheulen zu müssen.

"Die Ärzte kümmern sich um ihn", sagte ich dann. "Er schläft jetzt. Ich gehe nachher wieder zu ihm, dann kann ich euch morgen sagen, wie es ihm geht". Die Mädchen hätten jetzt vielleicht nicht mehr weitergefragt, aber mein großer Sohn gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden.

"Was ist denn passiert?", fragte er mich. Ich sah ihn an.

"Er... musste operiert werden", wich ich aus.

"Ja, aber warum?", wollte Sven wissen.

"Darüber kann ich morgen was sagen", antwortete ich.

"Du weißt es nicht?", bohrte Sven weiter.

"Sven, morgen wissen wir mehr, dann können wir uns darüber unterhalten", mischte sich jetzt zum ersten Mal mein Vater ein.

"Dann geht es Papi schlecht!", weinte da plötzlich Viola los, stand auf und stürmte hinaus.

"Viola!", sagte ich und rannte meiner Tochter hinterher. Ich hörte, wie auch Madeleine zu weinen angefangen hatte und nun von meiner Mutter getröstet wurde.

"Viola, warte auf mich!", sagte ich verzweifelt.

Ich holte sie noch im Flur ein und nahm sie fest in den Arm.

"Viola, alle kümmern sich sehr gut um Papa. Du darfst doch jetzt nicht die Hoffnung verlieren, ja? Er ist zwar im Krankenhaus, aber dort hat er alles, was er braucht, um wieder gesund zu werden. Verstehst du?". Ich wusste nicht, woher ich die Kraft nahm, ihr diese Worte zu sagen. Aber ich spürte, wie sie nickte. 

"Mama, kann ich morgen mit ins Krankenhaus?", fragte sie dann schniefend. Ich konnte sie so gut verstehen. Sie wollte, genau wie ich, Manu sehen und bei ihm sein.

"Das geht leider nicht", sagte ich.

"Warum?", fragte sie mich enttäuscht.

"Er ist in einer Abteilung, in die keine Kinder hinein dürfen", erklärte ich.

"Aber ich bin doch sein Kind! Warum darf ich nicht dort hinein?"

"Das ist leider so, Maus. Außerdem bleibe ich über Nacht in Sim City und komme morgen früh wahrscheinlich nicht nach Hause, und ihr habt Schule. Ich rufe euch aber an, um euch zu sagen, wie es ihm geht, ja?"

"Das ist nicht das gleiche", sagte meine Tochter.

"Ich weiß. Aber ich drücke ihn von euch, ja?"

"Das ist auch nicht das gleiche!", sagte sie, und die Tränen rannen über ihr Gesicht.

"Viola, ich verspreche dir, dass ich dich, so bald es geht, mit nach Sim City zu Papa nehme. Aber morgen geht es leider noch nicht", sagte ich.

"Gut", sagte sie dann kurz angebunden. "Ich gehe jetzt in mein Zimmer", fügte sie dann hinzu, und dann drehte sie sich herum und verschwand die Treppe nach oben. Ich blieb niedergeschlagen zurück. Obwohl ich natürlich gewusst hatte, dass hier niemand vor Freude in die Luft sprang bei so einer Nachricht, kostete mich das doch so unendlich viel Kraft. Und die brauchte ich eigentlich schon allein für mich. Ich wusste ja nicht mal, wie ich das alles durchstehen sollte. Sicher war ich jetzt auch nicht besonders gut gewesen, das alles den Kindern klar zu machen. Aber besser hatte ich es nicht machen können.

Als ich dann wieder im Krankenhaus in Sim City war und Manus Zimmer auf der Intensivstation betrat, war ich froh, wieder in seiner Nähe zu sein.

 

Allerdings stellte ich schnell fest, dass sich an seinem Zustand nichts geändert hatte. Natürlich war das vorauszusehen gewesen, denn sonst hätte ich ja eine Nachricht erhalten. Aber trotzdem war da ein Funken Hoffnung gewesen, dass ich hier in das Zimmer kam und es Manu schon besser ging.

 

Doch dem war nicht so.

Die Maschinen piepten immer noch an den Nerven zerrend, Manu schlief tief und fest. Nein, das war ja falsch. Er lag im Koma. Es fuhr mir eiskalt den Rücken hinunter, als mir dieser Unterschied wieder bewusst wurde. Koma. Gefahr des Organversagens. Nur noch eine Niere im Körper.

 

Der Kloß im Hals wurde schon wieder groß, und ich blinzelte die Tränen weg.

Dann begann ich, ihm von den Kindern zu erzählen. Schilderte ihm eine Situation während des Fahrens, in die ich beim Herkommen geraten war und in der vor allem ein idiotischer Autofahrer eine Rolle spielte. Ich war froh, dass nichts passiert war.

 

Dann sagte ich, dass ich von unterwegs eine Sitzung mit Silas und Viktor einberufen hatte. Sobald Viktor da war, würden wir drei uns zusammensetzen und das weitere Vorgehen besprechen. Aber Viktor war noch in England, während Silas von seiner Geschäftsreise nach Frankreich wieder zurück war.

 

"Manu, ich hoffe, dass ich mich überhaupt auf das konzentrieren kann, was mir die beiden zu berichten haben. Es ist so wichtig für die Firma, aber ich bin ständig mit den Gedanken bei dir". Ich hielt inne. Was hörte er von meinen Worten? Was bekam er von all dem hier mit? Das konnte keiner sagen, aber ich wollte trotzdem mit ihm reden, als würde ich mich mit ihm unterhalten. Es gab mir ein gutes Gefühl, und ihm vielleicht ja auch.

Irgendwann später kam dann Dr. Margon in das Zimmer, gefolgt von der Schwester, die hier schon wieder oder immer noch Dienst hatte.

 

Die beiden kontrollierten geübt Manus Zustand und die Geräte, bevor sich der Doktor an mich wandte.

"Frau von Hohenstein, schön, dass ich sie persönlich antreffe", sagte der Arzt.

"Hallo", begrüßte ich ihn. "Gibt es etwas Neues?". 

"Wir können noch keine genaue Aussage machen. Die verbliebene Niere ihres Mannes arbeitet immer noch unregelmäßig. Ich kann deshalb noch keine Entwarnung geben, so leid es mir tut. Sollte sich der Zustand bis übermorgen nicht gebessert haben, muss er an die Dialyse, damit die Giftstoffe aus seinem Blut kommen". Meine Lider flackerten leicht, als ich die Worte des Arztes soweit verdaut hatte. Dialyse also. Ich hatte das Gefühl, dass jeden Tag eine neue Schreckensnachricht auf mich zukam. Jetzt also schwebten nicht nur die Worte Messerattacke, Koma und Organversagen über mir, sondern auch Dialyse.

Ich wusste im ersten Moment gar nicht, was ich darauf sagen sollte. Dieser Albtraum war einfach zu schrecklich.

"Was würde passieren, wenn die Niere denn nun versagen sollte? Bekäme er dann gleich eine neue Niere?". Nun sah mich der Arzt bedauernd an.

"Da es noch nicht akut ist, steht ihr Mann noch nicht auf der Liste bei Eurotransplant. Sollte sich das ändern, würde er natürlich sofort da drauf kommen, nur gibt es im Moment akutere Fälle, die bevorzugt werden".

"So ein Organ findet sich doch aber nicht so schnell. Was also, wenn seine Niere von einer Sekunde zur anderen ausfallen sollte?", hakte ich nach. 

"Dann wird nach einem geeigneten Organ geschaut. Und bis er dieses bekommen würde, könnte er dank der Dialyse auch ohne Niere leben. Wir werden aber weiterhin versuchen, seine Niere zu stabilisieren", erklärte der Arzt.

Es war für mich richtig schlimm, nichts für Manu tun zu können. Ich konnte nur warten, und das zermürbte mich. Da kam mir ein Gedanke: Vielleicht konnte ich ja doch etwas tun?

"Sagen sie, nur für den Fall der Fälle: Könnte man nicht schauen, ob meine Niere nicht passt? Falls seine nicht mehr arbeitet, meine ich", wandte ich mich an den Arzt. 

"Wir können eine Blutprobe nehmen, ja. Würden sie sich dafür zur Verfügung stellen?". Was war das denn für eine Frage?!

"Selbstverständlich!", sagte ich sofort.

"Gut, dann folgen sie mir bitte in ein Behandlungszimmer", sagte Dr. Margon, und ich folgte ihm.

Nachdem man mir ein wenig Blut entnommen hatte, setzte ich mich wieder zu Manu ans Bett. Er lag unbewegt da, atmete ruhig. Und doch kam es mir so vor, als wäre er Lichtjahre von mir entfernt.

 

Niedergeschlagen wurde ich mir bewusst, dass ich erst seit zwei Tagen nicht mehr mit ihm gesprochen hatte, mir die Zeit aber so unendlich länger vorkam. Zwei Tage. Diese Angst um ihn zog alles in die Länge. Diese unsagbare Angst.

Tatjana schaffte es zwei Tage später, nach einem Flug von Brasilien direkt zu uns nach Sunset Valley zu kommen. Sie war beim Pilotenjob hängen geblieben und ich wusste nicht, ob sie ihr ursprüngliches Ziel, Astronautin zu werden, noch weiter verfolgte. Im Moment schien sie als Pilotin sehr zufrieden zu sein.

"Ich freue mich, dass du gleich kommen konntest!", sagte ich zu ihr. Ich hatte ihr die Nachricht über Manus Unglück aufs Handy gesimst, weil ich sie anders nicht erreicht hatte.

"Ja, es ist wirklich gut, dass mich mein Flugplan gerade jetzt wieder nach Deutschanien geführt hat. Leider muss ich heute Abend gleich wieder nach Sim City, weil ich einen Flug nach Südafrika habe, den ich nicht mehr abgeben konnte. Gott, Meg! Das ist alles so furchtbar!"

"Ja, ein Albtraum", stimmte ich ihr zu. Ich führte sie ins Wohnzimmer, wo wir es uns auf dem Sofa bequem machten.

"Wie geht es ihm jetzt? Und was sagen die Ärzte?", wollte Tatjana dann wissen, und ich versuchte, ihr alle Fragen möglichst genau zu beantworten. Auch wenn ich mir selbst noch so vorkam, als wäre ich in einem düsteren Nebel gefangen, der mich kaum normal denken ließ.

"Dieser... Lutzenbacher", sagte sie dann, als ich ihr soweit die nötigen Informationen gegeben hatte. Ich wusste, dass sie am Liebsten ein anderes Wort für Gernot benutzt hätte, "der ist jetzt wieder hinter Schloss und Riegel?". Ich nickte.

"Ja, und ich hoffe, dass er nie wieder auf freien Fuß kommt!", sagte ich und sah mich schon die besten Anwälte der Welt engagieren, damit Gernot bis zum Ende seiner Tage im Gefängnis blieb.

"Na, das will ich aber auch meinen!", sagte Tatjana. "Sonst kann ich für nichts garantieren!"

"Ich will wirklich gar nicht daran denken, dass er möglicherweise noch einmal aus dem Gefängnis entlassen werden könnte", gab ich zu. Nur dieser Gedanke allein schnürte mir schon die Kehle zu.

"Glaube mir, dann würde er es mit mir zu tun bekommen!", sagte Tatjana.

"Ach, Tatjana", seufzte ich auf. "Wir können da gar nichts tun, wenn wir uns nicht auf die gleiche, schäbige Stufe wie er stellen wollen. Nur hoffen, dass er nie wieder in die Freiheit entlassen wird. Ich werde schon einen Anwalt finden, der ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter bringt" 

"Nun, ich denke, das wird bei versuchtem Mord auch nicht so schwierig sein", sagte Tatjana.

"Ja, das hoffe ich doch", sagte ich, "Aber ich kann mir darüber jetzt kaum Gedanken machen, weil ich mit meinem Kopf nur bei Manu bin".

"Und ich kann Emmanuel jetzt nicht mal besuchen!", machte sich Tatjana dann Vorwürfe. "Ich habe noch versucht, den Flug nach Südafrika einem Kollegen zu geben, aber keiner hatte Zeit. Wenigstens wenn ich von dort wieder hier bin, kann ich mir drei oder vier Tage freimachen, um ihn besuchen zu können"

"Du kannst ja nichts dafür", beruhigte ich sie.

"Ja, aber blöd ist das trotzdem. Da liegt mein Bruder im Krankenhaus, und ich kann ihn nicht mal besuchen gehen"

"Ich werde ihm Grüße von dir ausrichten, wenn ich das nächste Mal dort bin. Ich gehe ja immer davon aus, dass er mich hört, wenn ich mit ihm rede", sagte ich.

"Ja, daran glaube ich auch", sagte Tatjana.

 

Wir redeten dann noch so lange weiter, bis sie sich auf den Weg nach Sim City machen musste.

In den nächsten 9 Tagen pendelte ich zwischen Sunset Valley, dem Krankenhaus und der Firma hin und her. An manchen Tagen fiel ich ins Bett wie ein Stein und wusste am nächsten Morgen nicht mehr, wie ich überhaupt ins Bett gekommen war, so erschöpft war ich.

 

Bei Manu gab es noch keine Veränderung. Ich musste jeden Augenblick mit der Nachricht rechnen, dass durch die kranke Niere ein multiples Organversagen verursacht wurde, und das machte mich fertig. Manu war schon drei Mal an der Dialyse gewesen, damit die Stoffwechselrückstände und andere Giftstoffe aus seinem Körper gewaschen wurden.

 

Meine Gewebeprobe war negativ ausgefallen. Ich könnte also im Notfall nicht spenden. Diese Tatsache zog mich zusätzlich runter, denn das Gefühl, nichts für Manu tun zu können, war wieder voll da.

 

Aber zumindest war nun nicht nur Silas, sondern auch Viktor wieder von seiner Geschäftsreise zurück und wir konnten endlich besprechen, wie es in Zukunft weitergehen sollte.

Vor unserem Konferenzraum hielt ich kurz inne und atmete noch einmal tief durch. Ich war die Chefin und trat nun meinem Geschäftsführer und seinem Assistenten gegenüber, ich musste mich am Riemen reißen.

 

Ich hörte schon die Stimmen der zwei Männer, sie waren also schon da. Ich schloss für einen Moment die Augen, sog noch einmal tief die Luft ein, öffnete die Augen wieder und trat dann entschlossen in den Konferenzraum.

"Hallo ihr zwei", sagte ich zu den beiden.

"Hallo, Megara", begrüßten mich die beiden.

"Wie geht es Emmanuel?", fragte mich Silas sofort, und ich sah die Sorge in seinen Augen. Was nur natürlich war, schließlich kannten sich Silas und Manu schon seit des Studiums und waren sehr gut befreundet. Nein, das war so nicht mehr richtig. Silas war zu Emmanuels bestem Freund geworden. Ich wusste, dass sie öfter was trinken gingen oder auch mal ins Kino, wenn Manu hier in Sim City übernachtete.

"Unverändert", presste ich hervor und setzte mich.

Silas schluckte hart, und konnte nichts mehr sagen. An seiner Stelle meinte Viktor leise:

"Das tut mir sehr leid, Megara. Wenn ich irgendetwas tun kann...". Er ließ den Rest des Satzes offen, doch ich verstand natürlich auch so.

"Danke, Viktor. Aber im Moment könnt ihr mir am Besten helfen, wenn ihr hier an den Brennpunkten in der Firma dran seid", sagte ich.

Und das war das Stichwort. Wir mussten besprechen, wie wir hier jetzt ohne Manu weitermachen konnten.

"Was hast du in Frankreich erreicht?", wollte ich von Silas wissen und versuchte, mich nun voll und ganz auf diese Sitzung zu konzentrieren. Ich hatte das Handy in der Hosentasche, wenn sich an Manus Zustand also etwas veränderte, würde ich sofort Bescheid bekommen. Solange das Handy nicht klingelte, war alles beim Alten und ich konnte mich auf das hier konzentrieren.

"Nun, unser Werkleiter dort, Monsieur Dupont, ist wirklich sehr hilfreich und bemüht, diese Sache aufzuklären. Er konnte einen Streik verhindern, weil er den Mitarbeitern gesagt hat, dass ich kommen würde. Als ich dann in dem Werk war, habe ich zu den Mitarbeitern gesprochen und gesagt, dass wir nicht vorhaben, Mitarbeiter zu entlassen, schon allein, weil das Werk ja noch jung ist und wir noch gar nicht sagen können, wie die Rentabilität ausfallen wird. Natürlich wurden auch Stimmen laut, die wieder nach der garantierten Beschäftigung gerufen haben, das gab noch mal zwei Tage Unruhe in dem Betrieb. Ich konnte nur das Schlimmste verhindern, in dem ich zugesichert habe, dass wir uns nach den ersten positiven Rentabilitätsberichten um Vertragsverlängerungen bemühen werden. Wir hatten ja eh vor, den guten Mitarbeitern einen Festvertrag anzubieten, wenn sich das Werk dort gefestigt hat".

"Du hast ihnen aber keinen Zeitraum genannt, an dem wir so etwas tun werden?", fragte ich ihn.

"Nein", gab mir Silas zur Antwort. "Sie haben versucht, mich da auf einen Monat festzulegen, aber ich habe gesagt, dass das bei einem neuen Werk nicht möglich ist. Ich hoffe, ich habe tatsächlich wieder Ruhe dort hinein gebracht. Bei meiner Abreise war ich ganz guter Dinge"

"Gut", sagte ich dann nur und atmete tief ein. Wenn sich das nun doch schon dort beruhigte, konnte es mir nur recht sein.

"Meine Werbereise durch England ist im Großen und Ganzen auch ganz gut verlaufen", sagte Viktor. "Ich hatte mir zwar mehr Aufträge erhofft, aber es ist besser als nichts. Nach ersten Hochrechnungen haben wir vier neue Großkunden und ein Auftragsvolumen von 60.000 § erhalten"

"60.000 § verteilt auf alle vier Großkunden?", fragte Silas schon fast entsetzt.

"Ja, ich konnte nicht mehr herausholen. In England haben wir es mit einem großen Konkurrenten zu tun, der sich dort schon gut breit gemacht hat. Da das eine einheimische Firma ist, ist das Vertrauen in unsere Produkte noch nicht so groß". Ich seufzte auf.

"60.000 sind mal besser als nichts. Es ist vielleicht nur der Anfang, jetzt müssen wir eben beweisen, dass deutschanische Produkte einen hohen Qualitätsstandard haben, und wir noch ganz besonders. Wir, unsere Produkte, werden sie schon überzeugen", sagte ich.

"Sicher", sagte Silas. "Das werden wir ja bald wissen". Es entstand eine Pause, doch dann sagte Viktor plötzlich:

"Wegen Norwegen... Ich würde eventuell das Gespräch mit diesem Baumarktleiter dort übernehmen".

 

Mein Herz klopfte schneller, und ich senkte meinen Blick auf die Tischplatte, weil ich den beiden meine Augen nicht zeigen wollte.

 

Norwegen.

 

Dorthin wollte Manu gehen, das war sein Kunde gewesen. Aber den Termin hatte Frau Behringer sofort gecancelt, als sie erfahren hatte, dass Manu im Krankenhaus war. Er war auf unbestimmte Zeit verschoben worden, aber lange durfte man so etwas nicht hinauszögern. Die Konkurrenz war groß und stand sicher schon in den Startlöchern. Wenn wir dort Fuß fassen wollten, musste sich jemand von uns darum kümmern.

"Viktor, du bist doch gerade erst aus England zurück. Macht es dir wirklich nichts aus, schon wieder eine andere Geschäftsreise anzutreten?". Ich fragte das, auch wenn ich wusste, wie seine Antwort ausfallen würde.

"Nein, das macht mir nichts aus. Soll ich also morgen gleich einen neuen Termin mit dem Chef von den "Hjem og haget"-Märkten dort machen?"

"Ja", sagte ich mit kratzender Stimme und räusperte mich. The Show must go on... Doch noch nie tat mir das so weh wie jetzt. "Ich kümmere mich dann um deine Arbeiten hier. Hattest du nicht nächste Woche einen Termin mit unserem Laborleiter, Herrn Willmers?"

"Doch, mit ihm wollte ich die Möglichkeiten der neuen Pflanzen, die dein Vater und dein Sohn züchten, besprechen. Die beiden sind bei dem Termin dabei und werden da von ihren Erfahrungen berichten und auch Sämlinge mitbringen".

"In Ordnung, diesen Termin nehme ich natürlich wahr. Und du legst mir bitte eine Liste auf meinen Schreibtisch mit den Dingen, die ich für dich erledigen muss, wenn du in Norwegen bist". Da ich natürlich nicht über alle seine Termine Bescheid wusste, musste ich mich da auch noch etwas einlesen. Ich war ja oft tagelang nicht in der Firma gewesen, um mich um die Kinder kümmern zu können oder an meinen Romanen zu arbeiten. Die drei Männer hatten das alles so gut im Griff gehabt. Jetzt, da Manu ausgefallen war, merkte ich erst recht, wie wir vier aufeinander eingespielt waren. Jeder mit seinen Aufgaben, jeder ein Zahnrad dieses Getriebes hier. Aber dieses ganz große Zahnrad war eben jetzt nicht da, und wir anderen drei mussten nun zusehen, wie sich unsere Zähne wieder ineinander verhaken konnten. So, dass die Maschinerie am Laufen gehalten wurde.

"Hast du morgen früh auf dem Schreibtisch", nickte Viktor.

Nachdem wir das geklärt hatten, gingen wir noch Berichte, Verkaufszahlen und Statistiken durch, und das war etwas, an das ich mich gewöhnt hatte. Das war ein normaler Teil meiner Arbeit, und es tat mir jetzt gut, einfach mal wieder etwas ganz Gewöhnliches zu tun.

 

So waren wir nach einer weiteren Stunde fertig. Es war schon recht spät, und ich wollte die zwei in ihren wohlverdienten Feierabend schicken. Viktor war verheiratet, und seine Frau musste schon oft genug auf ihn verzichten. Auf Silas wartete zwar im Moment niemand zu Hause, aber trotzdem hatte er sich etwas Entspannung verdient. Schließlich stemmten die beiden jetzt soviel mehr an Arbeit, da mussten sie mit ihren Kräften haushalten.

Wir verabschiedeten uns, und bevor wir den Konferenzraum verließen, nahm mich Silas noch mal kurz zur Seite.

"Megara, du sagst mir bitte sofort Bescheid, wenn ich Emmanuel besuchen kann, ja?", sagte er zu mir.

"Das ist doch selbstverständlich!", beruhigte ich ihn. Ich würde es vermutlich eh in die ganze Welt hinausschreien, wenn es Manu wieder besser ging.

"Gut", lächelte Silas, bevor auch wir hinaus gingen.

Bevor ich dann in mein Büro ging, machte ich einen Abstecher in das Büro von Manu. Ich wusste, dass ich das nicht tun sollte. Es tat nur weh. Und doch zogen mich meine Schritte dort hinein.

 

Soviele Erinnerungen hingen hier drin. Egal, ob ich vor meinem geistigen Auge Manu sah, wie er dort auf seinem Stuhl saß. Oder das Porzellan in dem Schrank, dass er sich als Souvenir aus China mitgebracht hatte.

 

Natürlich ging es mir hier drin von Sekunde zu Sekunde schlechter und ich ging wieder hinaus, bevor ich hier in Tränen ausbrach. Er fehlte mir so unendlich.

Weitere zwei Wochen später ging ich gewohnt in das Zimmer von Manu und sah auf die Geräte. Es schien alles so wie sonst zu sein, also kam ich näher, um ihm einen Kuss zu geben. Seine Lippen waren in den letzten Tagen immer trockener geworden und ich fragte mich, ob das ein schlechtes Zeichen wegen der Niere war.

 

Was mir Hoffnung gab, war, dass mir die Ärzte gesagt hatten, dass nach dieser Zeit ein Organversagen zwar nicht völlig ausgeschlossen werden konnte, die Gefahr jedoch deutlich gesunken war. Da alle Organe außer der Niere wieder normal arbeiteten, hatte man die sedierenden Medikamente, die Manu in dem künstlichen Koma gehalten hatten, abgesetzt. Und das hieß, dass er nun jederzeit wieder aufwachen konnte.

Ich hatte mich gerade gesetzt und begonnen, ihm alles zu erzählen, was geschehen war, seit ich das letzte Mal hier war. Dass Violas Noten nicht gerade berauschend waren, sie aber versprochen hatte, wieder mehr zu lernen. Dass Viktor an dem Morgen nach Norwegen geflogen war, um mit dem Baumarktleiter zu reden. Davon, wie sehr Manu vermisst wurde.

 

Und während ich ihm sagte, dass er mir sehr fehlte, raschelte die Decke. Ich starrte darauf, und als ich nichts mehr hörte, dachte ich, dass mir wohl meine Ohren einen Streich gespielt haben mussten.

Ich setzte gerade an, um weiter zu reden, als ich schon wieder ein Geräusch hörte. Wieder hielt ich inne. Ich richtete mich auf und sah ihn an. Bewegten sich da nicht etwas seine Augenlider?

"Manu?", fragte ich mit klopfendem Herzen.

Und wirklich! Manus Augenlider bewegten sich immer stärker, bis er sie schließlich ganz öffnete.

"Oh Gott", seufzte ich glücklich auf, als er mich ansah. 

"Du bist da", sagte er leise. Ich gab ihm gar keine Antwort mehr, sondern gab ihm einen vorsichtigen Kuss auf den Mund.

 

Ich löste mich genauso vorsichtig wieder von ihm und konnte ihn lange nur anstarren. Er streichelte mir mit seiner Hand, in dessen Arm keine Transfusionsnadel steckte, durch mein Haar.

"Ich bin so glücklich", stammelte ich immer wieder. "Ich hatte so eine Angst!"

"Meg, Liebling", sagte Manu nur und hielt meine Hand fest.

"Wie fühlst du dich?", wollte ich wissen. Hatte er starke Schmerzen?

"Ich weiß es nicht. Es geht", sagte er. Vielleicht hatte er Schmerzmittel im Blut, oder er konnte es noch nicht genau sagen. Sicher konnte ein Arzt mehr sagen, und außerdem mussten die Leute hier wissen, dass Manu erwacht war.

"Ich rufe mal den Arzt", sagte ich deshalb und drückte auf den Knopf neben seinem Bett.

Schon bald traf Dr. Margon ein und bat mich, kurz nach draußen zu gehen, um Manu untersuchen zu können.

Dort wartete ich mit klopfendem Herzen. Manu war wieder wach! Ich konnte es noch kaum fassen und wollte so schnell es ging wieder zurück zu ihm. Soviel Druck fiel von mir ab, diese unsagbare Angst, ihn verlieren zu können. Jetzt hatte ich das Gefühl, dass wir alles schaffen würden. Auch wenn seine verbliebene Niere weiterhin Probleme machen sollte, es würde sich eine Lösung finden.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, durfte ich wieder zu ihm, wo Manu noch am Bettrand saß und sich gerade wieder hinlegte. Der Arzt erklärte mir, dass abgesehen von der Niere soweit alles in Ordnung war. Und ich freute mich unwahrscheinlich über diese Nachricht.

Als wir wieder alleine waren, sah ich, dass Manu wieder sehr müde geworden war. Seine Augen fielen schon fast zu. Trotzdem fragte er mich noch, warum er hier war, und mir fiel es wie Schuppen von den Augen, dass er keine Ahnung hatte, weshalb er im Krankenhaus lag.

 

Ich wusste nicht, wie weit ich ihn belasten konnte, außerdem war er wirklich schon wieder sehr müde, also fasste ich mich kurz. Ich redete von einem Angriff mit einem Messer, als er auf dem Nachhauseweg war. Dass er eine Niere verloren hatte, wusste er bereits von Dr. Margon, aber eben nicht, warum. Die Details würde ich ihm an einem anderen Tag sagen, und das würde noch schwer genug werden.

 

Aber er schien das erst mal zu akzeptieren, denn kurz nachdem ich geendet hatte, schlief er wieder ein.

Da Manu nun wieder wach war und es ihm soweit ganz gut ging, konnte ich endlich die Kinder mit zu Manu nehmen. 

"Mami, ich glaube, Papa ist dort im Garten!", schrie Maddy plötzlich los. Ich sah in den kleinen Krankenhauspark, und tatsächlich: Dort wartete Manu schon auf uns.

Sofort stürmten die Mädchen los und flogen ihrem Vater um den Hals. Auch Manu war sichtlich gerührt. Immerhin hatte er seine Kinder seit einigen Wochen nicht gesehen.

"Papa! Ich habe dich so vermisst!", schrie ihm Maddy entgegen, und Manu lachte sie an.

"Und ich euch, Spatz!", sagte er. Es war so schön, das zu sehen.

"Alles klar, Großer?", fragte Manu Sven.

"Alles klar. Und bei dir? Geht es dir gut?", fragte Sven zurück.

"Ja, es geht mir gut", antwortete Manu.

Natürlich begrüßte auch ich ihn innig. Ich stellte fest, dass er eine gesündere Gesichtsfarbe bekommen hatte.

"Was sagen die Ärzte?", fragte ich ihn als erstes, wie jedes mal, wenn ich hier war.

"Sie will immer noch nicht so, wie sie sollte", sagte er etwas verschlüsselt, damit sich die Kinder keine Sorgen machen mussten. Aber ich hatte ihn natürlich verstanden. Es ging um die verbliebene Niere.

"Das heißt, du musst immer noch an das Gerät?", fragte ich ebenso verschlüsselt zurück.

"Ja. Zweimal in der Woche", antwortete er. Ich seufzte auf. Ich wünschte so sehr, dass er von der Dialyse wegkam. Manu drückte mich. "Das wird schon wieder", ergänzte er.

"Natürlich", sagte ich, obwohl ich nicht ganz so beruhigt war, wie sich meine Worte anhörten. Er merkte das natürlich.

"Hey", sagte er sanft zu mir, "Ich mache alles, was die Ärzte sagen. Ich habe nicht vor, diesen Kampf zu verlieren, Liebling".

"Ich weiß", gab ich zurück, dann gab ich ihm einen Kuss.

Dann spazierten wir einfach noch ein bisschen durch den mit vielen Blumen bestückten Krankenhausgarten. Seit Wochen endlich mal wieder als komplette Familie. Ich verdrängte für diesen kurzen Moment alle Sorgen, weil ich dieses Gefühl einfach genießen wollte. Natürlich gelang es mir nicht ganz, aber zumindest schafften wir es, von ganz anderen Themen zu reden. Von der Schule, von Freunden der Kinder, ich erzählte von der Firma und von den Geschehnissen in unserem Haushalt.

 

Die Kinder wollten sich kaum von ihrem Vater trennen, als wir abends wieder zurück nach Hause fahren mussten.

Den Tag, an dem Manu dann endlich nach Hause durfte, würde ich mir wohl rot im Kalender anstreichen. Ich fühlte mich sehr glücklich, dass er wieder hier war. Und auch ihm ging es so. Als wir Hand in Hand in den Flur traten, sagte er:

"Ich bin froh, wieder hier zu sein"

"Das bin ich auch", antwortete ich und kämpfte mit diesem Kloß im Hals. Die letzten Wochen waren einfach sehr schwer gewesen.

Die Kinder warteten schon, und als wir in das Esszimmer kamen, wurde Manu natürlich sofort bestürmt.

Allen war die Erleichterung anzusehen, jeder war froh, dass diese Sache so gut ausgegangen war.

Jetzt war alles wieder so, wie es sein sollte. Emmanuel war wieder hier, und es ging ihm soweit gut, dass er sein Leben annähernd normal leben konnte. Wenn seine verbliebene Niere keine Probleme machte, würden wir sogar irgendwann gar keinen Unterschied zu früher bemerken.

 

Und ich wollte jetzt nicht mehr daran denken, dass es nur haarscharf gewesen war, dass sich wirklich alles geändert hätte. Um ein Haar - und wir hätten ihn verloren.

Doch die Euphorie der Kinder schaffte es, dass ich diese düsteren Gedanken zumindest für den Moment zur Seite schieben konnte.

 

 

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