Gabriel

Ich hatte in meinem Leben wirklich nicht oft geweint, aber der Tod von meiner Line hatte mich so erschüttert, dass ich immer wieder in Tränen ausbrach.

 

Alles hatte seinen Sinn verloren. Alles.

An die Beerdigung konnte ich mich kaum erinnern, alles war wie durch einen Nebel passiert. Die Rede des Pfarrers, die Beileidsbezeugungen der vielen Menschen, die sich auf dem Friedhof eingefunden hatten... das alles war nur noch schemenhaft in meinem Kopf vorhanden. Aber vielleicht war das auch besser so.

 

Ich kam mir mit einem Schlag so allein vor. Auch wenn da natürlich noch Megara, Emmanuel und die Kinder waren, dann meine Freunde, aber es fehlte trotzdem so viel. Nämlich der Mensch, mit dem ich fast mein ganzes Leben verbracht hatte.

Pauline war in dem Moment in mein Leben getreten, als sich bei mir alles verändert hatte. Und sie war immer für mich dagewesen, ich hatte mich zu jeder Zeit auf sie verlassen können.

 

Die letzten Monate, als wir so viel gereist waren, waren wunderschön gewesen. Wir hatten viel Zeit zusammen gehabt, konnten uns China in aller Ruhe ansehen. Und das war jetzt einfach alles vorbei. Denn sie war nicht mehr da. Einfach nicht mehr da...

Auch das Angeln machte mir keinen Spaß. Ich hatte dabei einfach zu viel Zeit zum Grübeln, und das war nicht gut. Genaugenommen fühlte ich mich nirgends gut jetzt. Zu Hause lief das Familienleben weiter, auch wenn natürlich die anderen auch trauerten, aber irgendwie kam es mir ganz komisch vor, dass alles weiterlief, wie wenn nichts passiert wäre, dabei war doch alles anders jetzt.

Selbst die Arbeit in dem heißgeliebten Garten konnte mir keinen Trost spenden. Hier kam außerdem noch hinzu, dass Sven den Garten so toll in Schuss hielt, dass es für mich fast keine Arbeit mehr gab. Ich unterstützte eigentlich nur noch, und das war ja auch gut, immerhin hatte er es mir so überhaupt ermöglicht, mit Line die langen Reisen zu machen. Ich konnte wirklich stolz auf ihn sein, was er schon alles wusste und konnte. Aber ich kam mir so in dieser Situation natürlich noch überflüssiger vor.

Mandy rief mich zwei Wochen nach Paulines Tod an. Sie fragte gar nicht lange, wie es mir ging, sondern verabredete sich mit mir. Ich suchte mir das in vino veritas als Treffpunkt aus, auch wenn das nicht gut für mich war, das wusste ich.

 

Mandy kam dann auch gleich auf mich zugestürmt.

"Oh, Gabriel", sagte sie bestürzt, "Das tut mir so leid!"

"Ja", antwortete ich einsilbig. Was sollte ich darauf auch sagen? Mandy war natürlich auch auf der Beerdigung gewesen, und sie hatte mit mir auch telefoniert, aber so richtig gesehen hatten wir uns seit Paulines Tod nicht.

"Bist du dir sicher, dass das hier der richtige Ort für das Treffen ist?", fragte sie mich besorgt.

"Ja, ich möchte das so", antwortete ich.

"Okay", gab Mandy nur halb überzeugt zurück, das hörte ich ihr an. Aber da sie mir nicht widersprochen hatte, gingen wir dann in das Nektarium, dass wir vor fast 18 Jahren der Stadt Sunset Valley gestiftet hatten.

Wir suchten uns dann eine Flasche Wein aus, die wir heute bei diesem schönen Wetter aber draußen trinken würden.

Mit unseren Gläsern bewaffnet setzten wir uns an einen der Tische. Natürlich wurde ich von Erinnerungen überflutet, aber so hatte ich zumindest das Gefühl, dass Line hier wäre. Bevor wir tranken, überlegte sich Mandy noch einen Trinkspruch, und irgendwann flüsterte sie leise:

"Auf Pauline". Ich schluckte hart.

"Ja, auf Line", sagte ich dann aber.

"Gabriel, kann ich irgendetwas für dich tun?", fragte Mandy dann sofort. Das war ganz typisch für sie, sie redete nicht lange um den heißen Brei herum sondern sagte, was Sache ist. Das war schon immer so.

"Danke für das Angebot, aber ich denke nicht. Ich muss jetzt eben irgendwie klarkommen"

"Du kannst dich jederzeit bei mir melden, wenn du reden musst. Ich denke, dass deine anderen gerade auch nicht so viel helfen können, weil sie noch zu sehr mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt sind, oder?"

"Ja, das ist richtig. Die Stimmung zu Hause ist dementsprechend schlecht. Megara und Emmanuel haben sich in die Arbeit gestürzt, Sven ist eigentlich nur noch bei Lara oder im Garten, und die Mädchen bei Freunden. Jeder geht anders mit dieser Trauer um", erklärte ich.

"Deshalb auch mein Angebot. Du kannst jederzeit bei mir anrufen oder vorbeikommen", sagte sie. "Immerhin warst du nach meiner Scheidung von Johannes auch für mich da"

Ja, nach ihrer Scheidung von Johannes, hatte ich versucht, für beide dazusein. Die Trennung der beiden war auch für mich unerwartet gekommen, man hatte davor eigentlich nicht bemerkt, dass sie sich so dermaßen auseinandergelebt hatten. Aber Mandy war es dann gewesen, die den Schlussstrich gezogen hatte, weil sie sich einfach nicht mehr viel zu sagen gehabt hatten. Das war vor zwei Jahren gewesen.

"Das war genauso selbstverständlich", sagte ich dann.

"Was hast du für Pläne heute?", wollte dann Mandy wissen.

"Keine", antwortete ich, "Ich gehe nachher nach Hause und werde sehen, ob ich was im Garten tun kann". Mandy sah mich zweifelnd an.

"Ich würde dich heute Abend gerne zum Essen einladen, Gabriel. Ich finde, wenn du jetzt immer zu Hause sitzt, ist das nicht gut für dich. Und ich bin Rentnerin und habe Zeit. Und ein nein akzeptiere ich nicht", sagte sie resolut.

"Klar, das kann ich mir denken", sagte ich emotionslos. Auch wenn es mir wahrscheinlich gut tat, einfach mit jemand anderem zu reden und was anderes zu sehen, hätte ich mich heute doch am Liebsten zu Hause verkrochen.

"Also, sagen wir gegen 19.30 Uhr im Albertos, oder?", machte sie schon den Termin fest und ich seufzte auf.

"Na gut. Ich werde da sein", gab ich mich geschlagen.

"Schön, ich freue mich", sagte sie und wir verabschiedeten uns voneinander.

 

Und ich ging mit gemischten Gefühlen nach Hause. So sehr es mich freute, dass Mandy mich da mitreißen wollte, so schwer fiel mir das auch. Aber ich würde heute mit ihr Essen gehen, essen musste ich ja eh etwas und es war gut, den Abend mit einer guten Freundin zu verbringen.

Auch Johannes hatte mich ein paar Tage später zu sich eingeladen. Er musste mit jemandem reden, denn er hatte schließlich seine Schwester verloren und trauerte ebenfalls sehr. Und auch wenn mich die Gespräche nach wie vor sehr viel Kraft kosteten, taten sie mir auch gut. Man konnte so seine Gefühle aufarbeiten.

 

Als ich bei ihm am Tisch saß, hantierte er noch in der Küche.

"Du musst doch nichts kochen!", rief ich ihm zu.

"Das ist kein Problem. Ich habe heute auch noch nicht wirklich viel gegessen und hätte mir so oder so was machen müssen", antwortete mein Schwager.

"Aber für mich brauchst du nicht viel einplanen, so großen Hunger habe ich nicht", gab ich zurück.

"Ich auch nicht, aber als Mediziner muss ich gucken, dass wir unsere Nährstoffe zu uns nehmen", sagte er.

Als das Essen fertig war, kam er mit dem Topf an den Tisch und wir schöpften uns jeder eine kleine Portion.

"Gabriel, wie sollen wir das nur verkraften, kannst du mir mal das verraten? Ich stehe so neben mir. Ich begreife einfach nicht, dass sie einfach gestorben ist. Und ich frage mich, ob ich etwas für sie hätte tun können, wenn sie bei mir im Krankenhaus gewesen wäre". Ja, diese Vorwürfe kannte ich. Ich war zwar kein Arzt, aber ich fragte mich immer und immer wieder, ob sie sich mit den Reisen nicht zuviel zugemutet hatte und ich sie hätte warnen müssen. Ich wusste, dass diese Gedanken müßig waren, aber sie waren trotzdem da.

"Du bist nicht schuld, Johannes. Selbst wenn sie hier gewesen wäre, was hättest du machen können? Sie war ja nicht krank, sondern wurde einfach immer schwächer, so, als hätte sie sich ganz langsam von dieser Erde verabschiedet". Ich spürte, wie sich mein Herz zusammenzog, weil ich es immer noch nicht begreifen konnte. Warum hatte sie mich verlassen wollen? Warum?

"Aber irgendetwas hätte man doch machen müssen!", sagte Johannes.

"Es gab nichts, glaube mir. Und du als Chirurg weißt das doch besser als ich, dass man manchmal machtlos ist. Wieviele Patienten sind dir schon auf dem Tisch weggestorben?"

"Zu viele", sagte Johannes niedergeschlagen. "Jeder einzelne von ihnen war einer zuviel".

"Und das, obwohl du alles versucht hattest, nicht wahr? Und so war es auch bei Pauline: Man hat nichts mehr tun können. Sie hatte einfach keine Kraft mehr. Du hättest nicht das Geringste für sie tun können". Johannes saß grübelnd da, und ich konnte es ihm nicht verdenken. Es war einfach zu schwer, diese Tatsache zu akzeptieren. Für mich war es ja ebenfalls so.

"Ich vermisse sie so schrecklich", sagte er dann. "Es ist natürlich blöd, wenn ich das ausgerechnet zu dir sage, aber ich bin ihr Bruder und...". Ich unterbrach ihn.

"Johannes, du darfst sie doch genauso vermissen wie ich auch!", sagte ich zu ihm.

"Und wieder ist ein Teil meiner Familie weg. Nach der Scheidung von Mandy bin ich ja schon in ein tiefes Loch gefallen, Sabrina geht immer mehr ihre eigenen Wege und jetzt ist auch noch Pauline nicht mehr da. Ich bin froh, dass ich in dir nicht nur einen Schwager, sondern auch einen Freund gefunden habe. Sonst käme ich mir jetzt wahnsinnig allein vor", gab er zu.

"Du bist auf jeden Fall nicht allein", sagte ich zu ihm. Ich blieb noch eine halbe Stunde bei Johannes, bevor ich mich dann wieder auf den Weg nach Hause machte.

Die Tage waren nun immer gleich, nämlich gleich leer. Selbst hier, wenn ich mich in den Garten legte, war es so offensichtlich, dass sie fehlte. Der Platz neben mir war leer, und blieb leer. Und das war etwas, was immer noch nicht in meinem Kopf angekommen war.

 

 

Weiter mit Teil 7 >>