Teil 2

Ich ging sofort zu dem Empfang, wo eine junge, blonde Frau saß. Als ich an die Theke kam, blickte sie von ihrer Arbeit auf und begrüßte mich freundlich.

"Guten Morgen. Was kann ich für sie tun?".

"Megara von Hohenstein, ich bin zur Kur angemeldet", antwortete ich ihr, woraufhin sie sofort in ihrem PC nach meinen Daten checkte.

"Herzlich Willkommen im Dr. Barbara Kanzig Kurhaus, Frau von Hohenstein. Ich hoffe, dass sie eine gute Anreise hatten?", fragte sie mich.

"Ja, danke", antwortete ich knapp.

"Schön. Hier haben wir für sie einen Prospekt unseres Hauses, in dem sie alles Wissenswerte finden werden. Ich bitte sie nun, hier diese Anmeldung auszufüllen".

 

Ich füllte den Bogen mit meinen Personalien aus und gab sie der Empfangsdame, die laut dem Namensschild Rosalie Schneider hieß, zurück.

"Sie haben das Zimmer Nr. 14, welches sich hier unten im EG befindet", sagte Frau Schneider und ging an das Schlüsselregal, um mir meinen Schlüssel zu holen. "Soll ihnen mit dem Gepäck jemand helfen?", wollte sie dann wissen, doch ich verneinte. Das würde ich schon schaffen. Ich bedankte mich dann bei ihr, nahm mir meine Koffer und ging zu meinem Zimmer, welches mich die nächsten Wochen beherbigen würde.

Das Zimmer war zwar recht klein, aber gemütlich eingerichtet. Hier würde ich mich schon wohl fühlen können. Das Bad war sauber, die Matratze des Bettes nicht zu weich.

Mit einem Seufzer ließ ich mich darauf nieder und ruhte mich kurz aus. Nun also war ich hier, allein mit mir und meinen Gedanken. Ich bereute es schon, den Schritt getan zu haben. Sicherlich hätte ich mich doch auch zu Hause erholt, oder? Mit Trauer mussten schon so viele Menschen fertig werden, wenn da jeder in Kur gefahren wäre, wären die Kurhäuser aus allen Nähten geplatzt. Warum war ich so schwach? Ja, da war auch noch Sven, der von uns enttäuscht war und kaum mehr mit Manu oder mir sprach, das zehrte natürlich auch an den Kräften, aber lief ich jetzt nicht einfach feige weg? Wie sollte sich etwas an der Situation verbessern, wenn ich gar nicht zu Hause war? Fühlte Sven sich jetzt nicht noch mehr verlassen? Was war, wenn ich es nur noch schlimmer machte? Auf die Ankündigung, dass ich ein paar Wochen in Kur fahren würde, hatte er recht einsilbig reagiert, während Madeleine immer wieder betont hatte, wie sehr sie mich während meiner Abwesenheit vermissen würde. Viola hatte sich gewohnt wortkarg gehalten, aber bei ihr sprach die Mimik und Gestik Bände und ich wusste, dass auch sie mich lieber in ihrer Nähe als in einem Kurhotel wusste. 

 

Um diesen trüben Gedanken, die mich natürlich schon wieder nach unten zogen, zu entkommen, machte ich mich daran, meine Koffer auszupacken.

Nachdem meine Kleidung in den Schränken und meine Toilettenartikel im Bad verstaut waren, hatte ich noch etwas Zeit, bis ich das Gespräch mit Herrn Tobler hatte, der mit mir meine Anwendungen durchsprechen würde. Also nutzte ich diese Minuten und ging in den Park, der zu dem Kurhotel gehörte.

Ich setzte mich auf eine Bank unter einem Baum, und zu meiner großen Freude fielen mir die Staffeleien hier auf. Ob es auch einen Malkurs hier gab? Das wäre schön, denn ich hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemalt. Ich erinnerte mich daran, wie ich zusammen mit meinem Vater gemalt hatte, schon als ich noch klein war. Das war eine Sache, die uns beide verbunden hatte, in unserem Haus hingen noch einige Gemälde von ihm, unter anderem auch die Kinderbilder von mir. Ein tiefer Schmerz durchzog mich, als mir bewusst wurde, dass ich nie wieder mit ihm zusammen würde malen können. Gerade, als ich spürte, wie mich eine erneute Trauerwelle überrollen wollte, gab mein iPad einen Ton von sich der besagte, dass ich eine neue Nachricht bekommen hatte.

"Ich vermisse dich jetzt schon", stand da, und ich lächelte. Es gab wirklich keinen besseren Mann als Manu. Ich schrieb ihm sofort zurück, dass auch ich ihn bereits vermisste und ob er noch hier in Coldoroda war. Dies bejahte er in seiner Antwort an mich, teilte mir dabei auch mit, dass er sich in einer halben Stunde auf den Weg machen würde und wollte wissen, ob bei mir alles okay war. So schrieben wir noch ein paar Minuten hin und her, bevor ich mich auf den Weg zu Herrn Tobler machen musste.

Er empfing mich pünktlich in seinem Sprechzimmer und begrüßte mich freundlich. Schon seine Sprechstimme ließ erahnen, dass vor mir ein ruhiger Mensch saß, der wie geschaffen für einen sozialen Beruf war.

Deshalb war es für mich auch nicht schwer, Vertrauen zu ihm zu fassen. Mit geschickten Fragen begann er das Gespräch, und ich erzählte. Erzählte immer mehr, von der Trauer wegen Papa, von der belastenden Sache mit Sven. Herr Tobler stellte schnell fest, dass ich genau das richtige getan hatte und erst Mal Abstand zu allem nahm, um alles gut verarbeiten zu können. Und um neue Kräfte zu tanken.

 

Mein Plan enthielt dann vor allem auch Entspannungsmaßnahmen, außerdem zweimal die Woche Malerei und dreimal in der Woche ein Treffen mit anderen Betroffenen, was so eine Art Selbsthilfegruppe darstellte. Mit meinem genauen Plan samt den dazugehörigen Uhrzeiten verließ ich wieder das Zimmer. Ob man mir hier helfen konnte, würde sich noch zeigen, doch zumindest tat es gut zu wissen, dass es hier einige Möglichkeiten gab, damit ich wieder zur Ruhe und zu Kräften kommen konnte.

 

Den Rest dieses Tages hatte ich noch keine Anwendungen, so konnte ich mich in Ruhe mit dem Haus hier vertraut machen.

Mein erster Kurs war sofort ganz nach meinem Geschmack: Es war der Malkurs.

 

Ich stand hier in ganz bequemen Klamotten an dieser Staffelei und hatte die einfache Order des Kursleiters Herrn Krokowic bekommen, das zu malen, was ich wollte. Während die beiden anderen Kursteilnehmer noch etwas unschlüssig vor ihren Leinwänden standen, hatte ich sofort zu meinem Pinsel und der Farbpalette gegriffen, mir drei Farben gemischt und dann begonnen zu malen. Ideen, was ich malen konnte, hatte ich schon immer gehabt. Nur fehlte mir viel zu oft die Zeit dafür.

Es war mir natürlich völlig klar, dass man von einem gemalten Bild auf den psychischen Zustand eines Menschen schließen konnte, doch ich war nicht in einer psychischen Klinik, sondern in einer Erholungseinrichtung. Was auch immer sie an meinem Bild finden konnten, war mir jetzt nicht wichtig. Viel zu sehr genoss ich es, endlich mal wieder malen zu können.

Während unter mir die Wellen rauschten und wir vor unseren Leinwänden standen, um unsere Kunst auf die Leinwände zu bringen, ging dann irgendwann die Sonne unter und tauchte alles in ein rotes Licht. Die Szenerie war so schön, dass ich aufseufzen musste. Allein für diesen Augenblick hatte sich die Reise hierher gelohnt.

Am nächsten Morgen ging der Malkurs weiter, und bei schönstem Herbstwetter konnte ich mein abstraktes Kunstwerk vollenden.

Danach gab es Mittagessen, und ich bestellte mir ein leckeres Rotbarschfilet, als Nachtisch dann eine Zitronenmousse mit Obststückchen. Das Essen hier war sehr gut, da gab es nichts zu bemängeln.

Weil ich an diesem Tag sonst keine Anwendung mehr hatte, war ich nachmittags etwas spazieren gewesen und hatte den schönen Tag genutzt, um die Gegend rund um die Kurklinik zu erkunden. Ich hatte festgestellt, dass wir hier recht abgeschieden lagen. Ruhe pur also, genau das, was ich auch brauchte.

 

An diesem Abend nutzte ich dann zum ersten Mal das schöne Schwimmbad, und ich war ganz entzückt über die schönen Lichtverhältnisse jetzt, wo es draußen dunkel war. Nur ein anderer junger Mann war noch hier.

Nachdem ich ein paar Bahnen geschwommen war, machte ich es mir in einem der Liegestühle bequem. Und spürte, wie ich tatsächlich langsam zur Ruhe kam. Ich hatte hier ja noch wirklich nicht viele Anwendungen gehabt, aber einzig die Tatsache, dass ich jetzt nicht so tun musste, als wäre ich stark und würde alles schaffen, ließ einen starken Druck von mir abfallen. Ich durfte hier einfach liegen, ohne im Hinterkopf haben zu müssen, was ich jetzt alles tun müsste.

Danach hüpfte ich noch einige Zeit in den Whirlpool. Doch irgendwann war mir die Ruhe dann doch zu viel, ich vermisste meine Familie schrecklich. Manu sollte hier sein, die Kinder sollten hier toben. Ich seufzte auf. Nachher würde ich zu Hause anrufen, dann konnte ich wenigstens ihre Stimmen hören und würde so auch mitbekommen, was zu Hause passiert war. Auch wenn ich hier zur Ruhe kommen sollte, musste ich wissen, was meine Lieben so taten. Denn nur mit dem Wissen, dass dort alles in Ordnung war, konnte ich mich richtig erholen.

Meine nächste Anwendung einen Tag später war eine Entspannungsmassage. Darauf freute ich mich schon sehr, denn ich hatte schon lange keine Massage mehr gehabt. Ich war recht erstaunt, als ich meinen jungen Masseur sah - das war nämlich der Mann, der mit mir im Schwimmbad gewesen war.

"Gräfin von Hohenstein?", fragte er mich, als ich das Behandlungszimmer betreten hatte.

"Ähm, ja", sagte ich.

"Ich bin Markus Wenzel und heute ihr Masseur. Sie bekommen von mir eine Rückenmassage mit warmen Ölen. Möchten sie ein bisschen Entspannungsmusik im Hintergrund haben?"

"Gerne", antwortete ich, und der Masseur ging los, um die Anlage einzuschalten. Ganz leise klangen klassische Töne dann daraus. Er bat mich dann, mich freizumachen und mich auf die Liege zu legen.

Danach rieb er sich seine Hände mit dem warmen Öl, das nach Tannennadeln duftete, ein und begann, mich mit sanften Bewegungen zu massieren.

Er redete nicht viel dabei, sondern ließ mich komplett entspannen. Nur, wenn er etwas Neues machte, erklärte er mit kurzen Worten, was er tat.

Nach der Massage durfte ich mich noch einige Minuten einfach so auf die Liege legen. Herr Wenzel verließ den Raum, und ich lauschte der sanften Musik, während der feine Duft des Öls, das nun auf meiner Haut war, im Raum schwebte.

 

Natürlich kamen in diesem Entspannungszustand wieder die Gedanken an meine Eltern und Sven hoch. Und was ich zu Hause oder in der Firma zur Seite gedrängt hatte, ließ ich jetzt zu. Ich vermisste meine Eltern unendlich, und das würde sich so schnell auch nicht ändern. Sie waren beide so plötzlich und unerwartet gegangen, und dass mich das schmerzte, war normal und musste ich zulassen. Immerhin wäre es komisch gewesen, wenn es anders gewesen wäre.

 

Und das ich Sven gegenüber diesen großen Fehler gemacht hatte, belastete mich unsagbar. Doch was jetzt zählte, war, dass ich das meinem Sohn klar machen und das er uns verzeihen konnte. Und auch in dieser Sache fehlte Daddy sehr, denn er hätte sicher vermitteln können. Sven und er hatten ein unglaublich gutes Verhältnis zueinander gehabt.

Einen Tag später stand dann die erste Gesprächsrunde an. Ich wusste, dass dort Leute sitzen würden, die wie ich einen nahestehenden Menschen verloren hatten. Aus diesem Grund betrat ich das Zimmer mit gemischten Gefühlen. Denn hier würde viel über Tod und Verlust gesprochen werden, Dinge, an die ich nicht denken konnte, ohne einen Kloß in den Hals zu bekommen oder sogar in Tränen auszubrechen. Deshalb hatte ich bisher auch versucht, mich mit Arbeit von diesen Gedanken abzulenken. Dass das vielleicht auch nicht der richtige Weg war, hatte ich bemerkt, aber ob mir die Gespräche hier helfen würden, wagte ich noch zu bezweifeln.

Die junge Frau, die bisher mit dem blonden Mann gesprochen hatte, stand auf, als ich den Raum betrat.

"Du musst Megara sein", begrüßte sie mich, und ich nickte. "Wir duzen uns hier alle, ich hoffe, das ist kein Problem für dich?", fragte sie mich.

"Nein, das ist kein Problem", bestätigte ich und sie lächelte mich warmherzig an.

"Schön. Ich bin Evelyn und leite diese Gruppe hier. Suche dir einfach mal einen Platz, wir warten noch auf eine Teilnehmerin, dann geht es los", erklärte sie mir, und ich drehte mich um, um mich auf den erstbesten Stuhl zu setzen, der hier stand.

Wir mussten einige Minuten warten, bis auch die letzte Teilnehmerin endlich kam. Als das junge Mädchen das Zimmer betrat, erschrak ich fast ein bisschen. Sie war im Alter von meinen Zwillingen, sah aber einfach nur fertig aus. Ihre Haare hingen strähnig und fettig an ihrem Kopf herunter, unter ihren Augen hatten sich dunkle Augenringe gebildet. Sie tat mir auf der Stelle leid, obwohl ich noch nichts über sie wusste.

"Melissa, schön, dass du auch gekommen bist", begrüßte Evelyn sie. Melissa selbst hatte nicht gegrüßt, sondern sich nur auf einen freien Stuhl gesetzt und schmollte jetzt vor sich hin.

Doch Evelyn ließ sie erst Mal in Ruhe.

"Wie ihr seht, haben wir einen neuen Zugang bekommen. Megara, würdest du dich kurz vorstellen und dann sagen, weshalb du hier in Kur bist?". Vorstellungsrunde. Ich hatte es schon in der Schule nicht gemocht, und mochte es immer noch nicht. Doch mir blieb natürlich nichts anderes übrig, deshalb erzählte ich kurz, wie ich hieß, dass ich um beide Elternteile trauerte und große Probleme mit meinem Sohn hatte. Die anderen hörten mehr oder weniger aufmerksam zu, der Mann und Evelyn mehr, Melissa weniger.

 

Nachdem ich geendet hatte, stellten sich auch die anderen vor und ich erfuhr, dass mein Nebensitzer Jeremias hieß und seine Frau verloren hatte, Evelyn hatte vor einem Jahr ihre Tochter verloren, und Melissa musste den Verlust ihrer besten Freundin verkraften, die sich selbst das Leben genommen hatte. Und so wie ich das raushörte, machte sich Melissa Vorwürfe, diesen sinnlosen Tod nicht verhindert zu haben.

"Sicher habt ihr alle gut gemeinte Ratschläge von Freunden oder Verwandten erhalten, richtig?", fragte uns Evelyn. Und jeder von uns nickte, Melissa recht widerwillig. "Und ich schätze, jeder von uns hat sich gefreut, dass jemand uns trösten mochte. Leider helfen die meisten der gut gemeinten Ratschläge nicht. Vor allem, wenn es dann so ein kluger Satz ist von wegen: >Das Leben geht weiter!<". Jeremias unterbrach Evelyn.

"Ganz nett ist es auch, wenn man zwei Wochen nach dem Tod der geliebten Frau von einem Kollegen zu hören bekommt, dass man sich sicher wieder schnell verlieben würde. Und in der Marketingabteilung säße ja die süße Frau soundso, die vor kurzem geschieden worden wäre". Ich starrte Jeremias sprachlos an. Das war doch nicht wahr, oder? Man merkte, dass selbst Melissa nun aufmerksamer zuhörte. 

"Jedenfalls", sprach dann Evelyn weiter, "ist es erfahrungsgemäß so, dass diese Ratschläge nicht wirklich helfen können. Denn man trauert, und das bedeutet, dass einem ein wichtiger Mensch fehlt, von dem man weiß, dass man ihn nie wieder sehen wird". Ich spürte, wie sich mein Brustkorb erneut zusammenzog. Ja, nie wieder würde ich meine Eltern sehen können, mit ihnen sprechen.

"Ja, und von dem man weiß, dass er noch leben könnte, hätte man selbst nicht völlig versagt", sagte Melissa bitter. Evelyn wandte sich sofort an sie.

"Ich weiß, dass du dir Vorwürfe machst, Melissa. Aber du musst dich davon befreien. Es war ihr freier Wunsch, diesen Weg zu wählen, es ist sehr wahrscheinlich, dass du nicht das Geringste hättest tun können."

"Das glaube ich nicht. Ich habe sie einfach nicht ernst genug genommen", meinte sie, und ich sah, wie sie mit den Tränen kämpfte.

Anfangs hörte ich den anderen einfach nur zu, doch irgendwann erzählte ich auch mehr von mir. Sich so austauschen zu können mit Leuten, die gerade das gleiche wie ich durchmachten, tat gut. Und niemand gab einen komischen Ratschlag ab. Evelyn, die ihre Trauer um ihre Tochter verarbeiten konnte, in dem sie vor einem halben Jahr hier Gruppenleiterin für trauernde Kurgäste geworden war, hatte schon viele Geschichten gehört und versuchte, uns darin zu bestärken, unsere Trauer zuzulassen. Es würde nichts bringen, sie zu verdrängen. Außerdem erzählte sie von anderen Leuten und wie die sich geholfen hatten, besser mit dem Verlust klarzukommen. Etwa, dass jeden Abend für den Verstorbenen eine Kerze angezündet wurde. Oder man immer ein Foto bei sich trug. Oder dass auch einfach die Stille zugelassen wurde, um auch kleine Zwiegespräche mit dem Verstorbenen zu halten.

Weil ich am Wochenende keine Anwendung hatte, nahm ich mir die Zeit, die hauseigene Sauna zu besuchen. Dort traf ich auf die Frau, die mit mir in dem Malkus war und die ich auch schon ein paar Mal beim Essen getroffen hatte. Bisher hatten wir uns noch nie so richtig unterhalten, doch jetzt stellte sie sich mir sofort vor.

"Lorena Bauer", sagte sie und gab mir die Hand.

"Megara von Hohenstein", gab ich zurück. "Freut mich". Zuerst saßen wir schweigend da, doch dann nahm Lorena das Gespräch wieder auf.

"Sie sind erst vor kurzem hierher gekommen, oder?", wollte sie wissen.

"Vor einer Woche, ja", antwortete ich. "Und sie?"

"Das ist meine vierte Woche, am Mittwoch werde ich wohl nach Hause gehen können"

"Das ist schön", freute ich mich für sie.

"Ich weiß nicht, ob ich das auch so sehen kann", seufzte sie auf, und ich sah sie fragend an. "Ich hatte einen Burn-Out und war hier, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich habe Angst, dass es wieder von vorne los geht, wenn ich wieder zu Hause bin. Die Arbeit ist ja schließlich nicht weniger geworden". Ich fragte sie, wo sie arbeitete und sie erzählte mir von ihrer Arbeit als Oberkrankenschwester eines großen Krankenhauses. Sie alle dort litten unter akutem Personalmangel. Ihre Erzählungen bestärkten mich erneut, in unserer Firma so lange es nur ging mit genügend Angestellten zu arbeiten. Ich wollte einfach nicht, dass sich meine Leute kaputt arbeiteten.

Ich bedauerte sie aufrichtig um diese Arbeitsverhältnisse.

"Sie sind ja sicher auch nicht grundlos hier, oder?", fragte sie dann mich, und ich schüttelte den Kopf.

Und ich erzählte ihr, weshalb ich hier war. Lorena hörte mir aufmerksam zu, während wir hier drin schwitzten. Lorena stellte sich während unseres Gespräches als sehr nette Frau heraus, und als wir nach dem Saunagang zum Duschen gingen, duzten wir uns.

Noch mal eine ganze Woche musste ich aushalten, dann durfte mich endlich meine Familie besuchen. Ich wartete im Park auf die Ankunft meiner Lieben, und als sie endlich kamen, stürzte ich sofort auf sie zu. Manu begrüßte mich mit einem zarten Kuss und fragte sofort, wie es mir ging.

Auch Madeleine kam sofort zu mir und umarmte mich herzlich.

Selbst Viola ließ sich von mir drücken, und ich war so froh, sie alle wieder zu sehen. Endlich! Wie sehr hatte ich meine Familie vermisst!

 

Doch einer fehlte...

"Wo ist Sven?", fragte ich in die Runde und hoffte, dass er sich nur schnell erleichtern hatte müssen und gleich kommen würde. Doch an der betretenen Reaktion meiner Familie ahnte ich sofort, dass dem nicht so war. Manu wollte gerade ansetzen, was zu sagen, als Viola rausplatzte:

"Dieser Depp ist zu Hause geblieben. Er hat gemeint, dass er nicht mitkommen könne". Also doch! Er hatte mir immer noch nicht verziehen, und mein Magen krampfte sich augenblicklich zusammen.

"Ich konnte ihn nicht überreden mitzukommen", sagte auch Manu dann.

"Echt, daran merkt man, dass wir nicht den gleichen Vater haben", erklärte Viola trocken, und Maddy wies sie erschrocken zurecht.

"Viola, ich möchte nicht, dass du so von deinem Bruder redest, klar?", sagte ich mit fester Stimme, und Viola fügte sich maulend. Die Mädchen hatten die Tatsache, dass Sven ihr Halbbruder war, zuerst geschockt aufgenommen, aber dann beide ziemlich schnell verdaut. Ich vermutete, dass das vor allem Madeleines Verdienst gewesen war, die schon immer ein besonders gutes Verhältnis zu ihrem Bruder gehabt hatte.

 

Wir versuchten dann, von etwas anderem zu reden, ich wollte alles wissen, was in den zwei Wochen, während ich jetzt schon hier war, zu Hause passiert war. Doch natürlich betrübte mich die Tatsache, dass mein Sohn sich nicht hatte überwinden können, mich zu besuchen. 

Nachdem Manu und die Mädchen wieder gegangen waren, blieb ich noch lange im Park sitzen. Der Mond ging bereits auf, und es wurde sehr frisch hier draußen. Ich wollte gerade aufstehen, um in das Haus zu gehen, als ich entfernt einen Schemen, der auf mich zukam, wahr nahm.

Hatte ich Halluzinationen?

Nein! Eindeutig kam hier Sven auf mich zu!

 

Ich sprang von der Bank auf und war schon versucht, ihn in meine Arme zu reißen, ließ das aber gerade noch bleiben. Ich durfte ihn jetzt schließlich nicht überfordern.

"Sven!", rief ich aus, als er vor mir stand. Er sah mich zuerst etwas unsicher an, und ich spürte, wie es in ihm arbeitete.

Doch dann umarmte er mich, und sagte an meiner Schulter:

"Ich habe dich schrecklich vermisst, Mum". Was tat das gut!

"Ich dich auch", sagte ich ergriffen an Svens Ohr.

"Und es tut mir leid, dass ich dir so viel Kummer gemacht habe", entschuldigte er sich.

"Nein, du musst dich nicht entschuldigen, Sven!", sagte ich. "Immerhin haben wir den Fehler gemacht, nicht du!"

"Aber du wärst vielleicht nicht hier", er machte eine Kopfbewegung zu dem Kurhaus hin, "wenn ich nicht... so gewesen wäre". Gott, mein Junge! In diesem Moment waren wir uns so nah wie noch nie!

"Nein, das war eine ganz normale Reaktion", versicherte ich ihm. "Weiß Papa, dass du hier bist? Also Manu?", verbesserte ich noch schnell.

"Sag Papa", meinte Sven dann. "Denn das ist er schließlich schon immer gewesen. Und ja, er weiß es. Er, Maddy und Viola sind gerade nach Hause gekommen, als ich beschlossen habe, mich sofort auf den Weg zu dir zu machen. Ich hatte mir den ganzen Nachmittag über schon Vorwürfe gemacht, warum ich nicht mitgekommen war. Und habe gedacht, besser spät als nie..."

"Ich freue mich", sagte ich dann und sah meinen erwachsenen Sohn an.

Es gab eine kurze Pause zwischen uns, doch dann begann Sven zu reden.

"Mum, es war wirklich ganz schrecklich zu erfahren, dass Daddy eben nicht mein biologischer Daddy ist. Ich war wie vor den Kopf geschlagen"

"Und das verstehe ich!", sagte ich sofort. "Weißt du, in den letzten zwei Wochen hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich habe mir vorgestellt, ich hätte erfahren, dass mein Vater nicht mein biologischer Vater gewesen wäre. Ich glaube, mir wäre es nicht anders als dir gegangen. Einfach aus dem Grund, weil man diesen Menschen so lieb gewonnen hat, und dann zu erfahren, dass es dort draußen jemanden gibt, der biologisch mehr mit einem verbunden ist als eben jener, von dem man das die ganze Zeit geglaubt hatte... Das muss sehr schwer für dich gewesen sein!".

"Ja, aber genau der Grund, den du eben genannt hast, hat mir geholfen, damit klar zu kommen", sagte er dann. Ich sah ihn fragend an, und er antwortete:

"Weil ich Daddy einfach lieb habe. Egal, ob er nun mein Erzeuger war oder nicht"

"Ist das wahr?", fragte ich nach.

"Natürlich. Und natürlich habe auch ich mir viele Gedanken gemacht, auch viel mit Lara gesprochen. Irgendwann habe ich versucht, das alles aus deiner und Daddys Sicht zu sehen. Du hast mir ja erzählt, wie mein Erzeuger so war, und anfangs habe ich dir kein Wort geglaubt, weil ich so sauer war. Ich wollte mich sogar vergewissern, dass er ein toller Mann ist und mich mit dem Gedanken getragen, mich auf die Suche nach ihm zu machen", gestand er. Ich sah ihn erschrocken an. Nicht auszudenken, wenn er das wirklich getan hätte! Immerhin hatte ich ihm noch die Soft-Version von Erich erzählt, er wäre vermutlich geschockt gewesen, wenn er ihm wahrhaftig gegenüber gestanden wäre.

"Was hat deine Meinung wieder geändert?", fragte ich atemlos nach.

"Das war denkbar einfach", begann er und sah mir fest in die Augen. "Ich wollte meine wirkliche Familie nicht verlieren".

Ich konnte ihn sekundenlang einfach nur anstarren. Hier vor mir stand kein Kind mehr. Hier stand ein junger Erwachsener mit einer eigenen Meinung, der seine eigenen Entscheidungen traf. Ich spürte, wie Mutterstolz in mir hochkroch.

"Ihr wart immer für mich da, obwohl mir ganz klar ist, was ihr zu wuppen hattet wegen der Firma. Die Männertage mit Papa bedeuten mir immer noch sehr viel, auch wenn wir kaum mehr Zeit dafür finden. Wenn ich nächstes Jahr studiere, wird das natürlich kein bisschen besser werden. Aber wir hatten so viele schöne Tage, und es war einfach so, dass er mir nie gezeigt hat, dass ich nicht sein Sohn wäre. Wäre das anders gewesen, hätte ich es ja schon früher von selbst gemerkt und vielleicht einen Verdacht geschöpft. Aber dem war nicht so. Und ich habe gewusst, wie sehr es euch verletzt hätte, wäre ich tatsächlich auf die Suche nach meinem biologischen Vater gegangen. Ich habe das, was ich hatte, nicht aufs Spiel setzen wollen. Und jetzt ist es mir egal, wer er ist. Ich habe meine Familie". Nun war ich es, die Sven umarmte. Der Stein, der mir in diesem Moment vom Herzen fiel, hatte Ausmaße eines ganzen Gebirges.

"Ich habe dich lieb", sagte ich zu ihm und strich ihm durch sein wuscheliges Haar. Er sah verlegen auf den Boden. Okay, damit sollte ich wirklich aufhören, er war schließlich kein kleines Kind mehr, aber mir war so danach gewesen.

 

Ich fragte ihn dann nach Lara und wie es ihr ging, er mich nach meinem Aufenthalt hier und so redeten wir noch einige Zeit, bevor er sich wieder auf den Heimweg machte. An diesem Abend fühlte ich zum ersten Mal seit dieser schlimmen Ereignisse wieder so etwas wie Leichtigkeit in mir. Was zwei Wochen Kur nicht geschafft hatten, hatte das Gespräch mit meinem Sohn bewirkt.

Bei dem nächsten Gruppentreff war ich aufgrund der positiven Entwicklung mit Sven um einiges gelöster. Evelyn war die Veränderung sofort aufgefallen, und sie hatte mich nach dem Grund gefragt. Nur zu gerne erzählte ich, was vorgefallen war. Da Jeremias nicht mehr hier war, waren Evelyn, Melissa und ich alleine.

Melissa, die heute viel gepflegter als in den Stunden davor aussah, sagte zwar immer noch nicht so viel, konnte sich aber tatsächlich dazu durchringen, mir zu sagen, dass sie sich mit mir freute.

"Melissa, es ist schön, dass du dich für Megara freuen kannst. Ich glaube, dass du so langsam Frieden findest, oder?", fragte Evelyn Melissa.

"Ja, ist ja auch schön. Ich meine, Megara hat ja wirklich einen Fehler gemacht gehabt, und wenn ihr Sohn jetzt verzeihen konnte, ist das doch toll"

"Glaubst du, du kannst deiner Freundin auch eines Tages verzeihen?", fragte Evelyn weiter, und sowohl Melissa als auch ich sahen sie verblüfft an.

"Was... was meinst du denn damit?", stotterte Melissa unsicher.

Evelyns Mund umspielte ein warmes Lächeln als sie sprach:

"Weißt du Melissa, du hast dir so lange Vorwürfe gemacht, dass du deine Freundin nicht vom Selbstmord hast abhalten können. Hast du dich je gefragt, warum sie dich einfach mit diesen Gewissensbissen zurücklassen konnte? Jemandem, der Selbstmord begeht, sollte klar sein, was er seinen Angehörigen und Freunden damit antut. Du bist wahrhaftig nicht die erste, die mit dem gleichen Problem hier sitzt. Deine Aufgabe ist es nun, mit diesem schlimmen Ereigniss zu leben. Es ist dein gutes Recht, dir dabei alle Hilfe zu holen, die es gibt". Melissa dachte eine ganze Weile über diese Worte nach, und auch mir klangen sie noch im Ohr, als sich Evelyn wieder an mich wandte und mich zu meiner Trauer befragte. Diesbezüglich hatte sich bei mir nicht sehr viel geändert seit dem letzten Treffen, aber durch die Versöhnung mit Sven fühlte ich mehr Kraft in mir, mit der Trauer fertig zu werden.

Nach der Gruppenstunde sprach mich Evelyn an.

"Du hast jetzt nur noch eine Stunde, oder? Gehst du bald nach Hause?". Ich nickte.

"Ja, in vier Tagen", antwortete ich.

"Dann geht es dir besser?", hakte Evelyn nach. Es war wirklich rührend, wie sie sich um jedes einzelne Schäfchen ihrer Gruppe sorgte.

"Ich denke schon. Die Sache mit Sven hat sich ja zum Guten gewendet, und mit meiner Trauer werde ich leben müssen, so lange, wie sie da sein wird. So wie auch Melissa mit dieser furchtbaren Tragödie klar kommen muss, die sie schon so jung erfahren musste".

"Da hast du Recht, Megara. Und es freut mich, dass es dir besser geht. Dann bis zum nächsten Mal!"

"Ja, bis zum nächsten Mal", verabschiedete auch ich mich.

Notenbild ist verlinkt und führt zu einem Video.

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Am darauffolgenen Sonntag war es dann endlich so weit: Ich durfte wieder nach Hause. Manu holte mich natürlich ab, und in dieser Nacht hatte es zum ersten Mal geschneit. Ich war froh, dass ich mir auch warme Sachen eingepackt hatte, denn so konnte ich schon draußen auf Manu warten.

 

Er kam mit einem Lächeln auf mich zu, und ich ging ihm entgegen.

"Ich freue mich so", sagte Manu und nahm mich fest in den Arm. Er musste nicht sagen, wegen was er sich freute, ich wusste das auch so.

"Ich mich auch", sagte ich und hielt ihn so fest umschlungen, wie es mit unseren dicken Jacken nur ging.

Dann küssten wir uns, und ich fühlte mich jetzt schon wieder zu Hause, auch wenn wir noch etliche Kilometer bis nach Sunset Valley fahren mussten.

Drei Wochen später war Weihnachten. Es war das erste Weihnachtsfest ohne meine Eltern, und es war für mich sehr schmerzhaft. Sie fehlten an diesen Tagen noch mehr als eh schon.

 

Doch wir hatten uns vorgenommen, es trotzdem so gemütlich zu machen wie es nur ging und meine Eltern im Herzen bei uns zu tragen.

Es freute uns sehr, dass Tatjana endlich mal wieder mit uns Weihnachten feiern konnte. Die letzten vier Jahre war sie an den Feiertagen immer in der Weltgeschichte herumgeflogen, doch an diesem Weihnachten war sie hier. Auch Samuel und Silas gesellten sich zu uns. Onkel Johannes feierte in diesem Jahr bei Mandy und seiner Tochter Sabrina. Obwohl Mandy und Johannes geschieden waren, schauten sie danach, solche wichtigen Tage gemeinsam zu feiern, schon allein für Sabrina, auch wenn die nun auch schon volljährig war.

So aßen wir erst noch ein recht einfaches Gericht, was mein Vater viel besser hinbekommen hätte. Seine Gemüsepastete war einfach weltklasse gewesen, ich war mir sicher, dass ich in meinem ganzen Leben keine so gute mehr essen würde können.

Nach dem Essen machten wir die Bescherung, und auch wenn wir uns nichts Großes kauften, so freuten sich Silas und Sam über den kleinen Gedichtband mit selbstgeschriebenen Gedichten sehr.

Wir feierten das Weihnachtsfest so besinnlich, wie es unter diesen Umständen nur ging. Meine Eltern würden hier immer fehlen, aber wir mussten weitermachen, auch wenn es an manchen Tagen sehr schwer fiel. Irgendwie musste es ja gehen. Zum Glück war ich nicht alleine, sondern hatte den wundervollsten Mann, den man sich wünschen konnte, an meiner Seite. Außerdem meine drei Kinder, die ich sehr liebte. Nicht zu vergessen meine Freunde, von denen manche, wie Sam, schon mein Leben lang für mich da waren.

 

Es würde weitergehen. Auch wenn Gabriel und Pauline unvergessen bleiben würden.

 

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