2 Jahre später

Madeleine

Ich hätte nein sagen sollen. Es wäre doch wirklich nicht schwer gewesen. Nur ein winziges Wort, und ich hätte heute Abend gemütlich in meinem Zimmer sitzen können, mit einem schönen Buch vielleicht oder einer guten CD.

 

Stattdessen hatte ich mich tatsächlich von meiner entzückenden Schwester dazu überreden lassen, in einen Club zu gehen. Zum allerersten Mal war ich jetzt also so richtig aus. Und bereute es schon.

 

Natürlich war auch Felix dabei, der zum besten Freund von Viola geworden war, und die beiden hatten einen riesigen Spaß zusammen. Natürlich. Wie immer eben. Wir standen im Prohibition, einem Schuppen, dem ich auf Anhieb nichts Gutes abgewinnen hatte können. Die Musik war zu laut, die Getränke zu alkoholhaltig, die Einrichtung hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Auch wenn ich nun seit einiger Zeit 16 Jahre alt war und Viola gemeint hatte, dass es Zeit war, dass ich auch mal unter die Leute kam, wünschte ich mich nun einfach von hier weg.

 

Was natürlich nicht ging.

 

Seit einer halben Stunde stand ich hier an diesem rostigen Gitter und mein Eindruck hatte sich nicht geändert. Viola und Felix ließen sich gerade über die Mixfähigkeiten der Barkeeper hier aus, und so wie es schien, kamen die dabei nicht gerade im besten Licht weg. Ich fragte mich gerade, was für eine Ausrede ich nehmen konnte, um hier möglichst bald wieder wegzukommen, als Viola das Wort an mich richtete.

"Maddy, jetzt stehe doch nicht die ganze Zeit hier herum, als wärest du zur Salzsäule erstarrt! Hab doch auch mal ein bisschen Spaß!". Gut, wir waren ja noch selten einer Meinung gewesen, was Spaß machte und was nicht, aber dass das hier wirklich Freude machen sollte, konnte ich wirklich nicht verstehen.

"Jetzt lass mich doch erst Mal alles genau unter die Lupe nehmen", sagte ich übellaunig.

"Vielleicht brauchst du auch nur mal was ordentliches zu trinken", sagte Felix und deutete zuerst auf seinen Cocktail, dann auf meine Cola. Mein Blick verdüsterte sich augenblicklich.

"Danke. Man sollte auch ohne Alkohol auf Touren kommen können", meinte ich kühl. Viola grinste breit los, und auch Felix funkelte mich belustigt an. Super. Was hatte ich denn jetzt wieder gesagt?

"Das, was Felix da trinkt, ist ein Ipanema", erklärte mir Viola, und ich wusste natürlich so viel wie davor auch schon. Sie musste meine Ratlosigkeit gesehen haben, denn sie fuhr fort: "Alkohlfrei, Maddy. Das da könntest du auch einem Baby geben". Ich sah noch mal auf das Glas von Felix, in dem eine grün-gelbe Flüssigkeit war, und konnte es nicht verhindern, rot anzulaufen. Felix schien meine Verlegenheit nicht aufzufallen, zumindest ging er nicht darauf ein, sondern fragte mich:

"Möchtest du mal einen Schluck probieren? Er ist zwar nicht sonderlich gut gemixt, aber man kann es trinken und es ist mal was anderes als dieses Zuckerwasser, was du da zu dir nimmst. Außerdem kannst du dann ganz getrost ohne Alkohol auf deine Touren kommen". Violas Grinsen verbreiterte sich noch, und auch ich hatte die Zweideutigkeit seiner Worte verstanden und lehnte dankend ab. Themawechsel war angesagt, so dass ich aus diesem Fettnäpfchen mal wieder rauskonnte, dass da fröhlich vor mir gestanden hatte und in das ich zielsicher hineingetappt war. Typisch.

Während ich also grübelte, von was wir nun reden konnten, nahm Felix genüsslich einen Schluck seines Cocktails, den ich kurz davor verschmäht hatte. Blödmann. Das machte der doch jetzt mit Absicht. Viola nahm das Gespräch wieder auf und wandte sich an ihren Freund:

"Sag mal, färbst du dir deine Haare jetzt nicht mehr? Dein blau ist schon fast weg", sagte sie halb erbost zu ihm. War ja ein Unding, dass sich jemand keine Farbe ins Haar schmierte. Sie selbst hatte im Moment strahlend gelbe Strähnchen in ihren schwarzen Haaren, die natürlich total rausstachen. Auch sonst war Violas Stil eher von auffälliger Natur. Ich selbst machte mich gerne mal schick, aber so auffällig wie sie dann doch nicht.

"Hm", machte Felix, als er getrunken hatte. "Ich habe echt keine Lust, mir immer die Ansätze zu färben. Das kostet Zeit und Geld und irgendwann ist auch mal gut. Ich bin jetzt fast vier Jahre mit blauen Haaren herum gelaufen und hatte schon fast vergessen, wie meine Naturhaarfarbe ist. Und unter der Kochmütze sieht das ja eh kein Mensch", erklärte er zwinkernd, und ich sah seine Haare an. Das blau, mit dem er die letzten Jahre herumgelaufen war, war wirklich fast verschwunden und hatte einem hellen braun Platz gemacht, seiner Naturhaarfarbe. Ich persönlich fand ja, dass die ihm tausend Mal besser stand als dieses auf Teufel komm raus auf cool gemachte blau. Das behielt ich aber dann doch besser für mich.

"Spießer", sagte Viola gespielt verächtlich, doch Felix lachte.

"Komme du erst Mal in mein Alter!", sagte er, und jetzt musste auch ich leicht schmunzeln. Felix war gerade mal dreieinhalb Jahre älter als wir, er würde in ein paar Wochen 20 Jahre alt sein.

"Was dann?", fragte Viola herausfordernd.

"Na, im Alter kommt die Weisheit, davon hast du doch schon gehört, oder?", stichelte Felix weiter.

"Ekel!", sagte Viola. "Sei du mal lieber froh, dass ich mich mit so einem Greis wie dir überhaupt abgebe", konterte sie.

"Ich werde dir auf ewig dankbar sein, Frau von Hohenstein", sagte Felix übertrieben höflich und deutete sogar eine kleine Verbeugung an, weshalb die beiden nun schon wieder zu giggeln anfingen und dann lauthals loslachten. Ich seufzte auf. Das konnte ja noch heiter werden. Ich hätte vielleicht Maika anrufen sollen und sie fragen, ob sie ebenfalls hierher gekommen wäre. Als meine beste Freundin hätte sie das bestimmt getan und ich müsste mir jetzt nicht vorkommen wie das 5. Rad am Wagen und mir die Zeit hier totschlagen.

Während ich mich noch im Selbstmitleid suhlte, wandte sich Felix an uns beide.

"Mädels, darf ich euch was fragen?", fragte er, und sowohl Viola als auch ich sahen ihn gespannt an.

"Natürlich", sagte Viola, und wir warteten, was uns Felix fragen wollte.

"Wie ihr wisst, habe ich bald meine Kochausbildung beendet. Die Prüfung ist in starken vier Wochen, und nächsten Dienstag habe ich die Möglichkeit, mein Prüfungsessen in meinem Ausbildungsbetrieb probe zu kochen, weil wir da Ruhetag haben. Nur sollte das dann vielleicht auch jemand kosten, und ich habe mich gefragt, ob ihr euch dazu überreden könntet?". Nun war ich doch etwas baff, denn damit hatte ich gar nicht gerechnet. Viola sah mich kurz an, und ich zuckte mit den Schultern. Auch wenn ich nicht viel Lust hatte, sprach ja aber nichts dagegen, ihm den Gefallen zu tun. Viola hatte mein Schulterzucken wohl als Zustimmung befunden, denn sie sagte zu Felix: 

"Klar, das machen wir doch gerne! Maddy, das ist echt klasse, weißt du, in was für einem Schuppen Felix seine Ausbildung macht?". Ich überlegte. Sicher hatten die beiden oder zumindest Viola alleine mal davon gesprochen, aber mir wollte beim besten Willen nicht einfallen, was das für ein Restaurant war.

Doch Viola half mir sofort auf die Sprünge.

"Das ist so ein ganz nobler Schuppen mit 2 Sternen, sein Chef gehört zu den Spitzenköchen hier im Süden von Deutschanien. Wir werden da kulinarisch verwöhnt werden, glaube mir!", sprudelte sie heraus, und ich konnte nicht umhin sondern ließ mich von ihrer Freude anstecken. Die Aussicht auf ein leckeres Essen war dann doch zu verlockend.

"Na ja, setzt eure Erwartungen lieber mal nicht zu hoch, immerhin koche an dem Abend ja ich und nicht mein Chef", schmunzelte Felix.

"Ts, Tiefstapler, der", machte Viola. "Was wird es denn geben?"

"Also, das wird jetzt noch nicht verraten, so viel ist ja wohl klar!", sagte Felix.

Später ließ ich mich dann sogar noch dazu überreden, mit Viola auf die Tanzfläche zu gehen. Weil gerade ein tolles Lied lief, musste sie da gar nicht lange überreden, und hier hatte ich zum ersten Mal an diesem Abend dann auch richtig Spaß.

 

So war der Abend dann doch noch ganz nett und konnte mir sogar vorstellen, mal wieder hierher zu kommen.

An besagtem Dienstag kam ich später als sonst von meinem Job in der Buchhandlung nach Hause. Ausgerechnet an dem Tag, an dem das Probeessen bei Felix statt fand! Ich hetzte also in unser Haus und überlegte währenddessen, was ich anziehen sollte. Im Wohnzimmer blieb ich überrascht stehen: Auf dem Sofa lag Viola und schlief! Sie hatte den Termin wohl regelrecht verschlafen!

Ich ging zu meiner Schwester und rüttelte sie leicht an der Schulter, um sie zu wecken. Dabei spürte ich bereits die Hitze, die von ihrem Körper ausging, und ich ahnte sofort, was los war. Sie war wirklich aufgewacht und blickte mich nun aus kleinen, fiebrigen Augen an.

„Hey, was ist denn mit dir los?“, fragte ich überflüssigerweise. Es war ganz offensichtlich, dass meine Schwester krank war.
„Mir geht es total scheiße“, krächzte sie. „Mum ist schon in die Apotheke gefahren, um mir etwas zu holen“

„Mist“, sagte ich. „Dann sage ich Felix ab, so können wir ja unmöglich gehen“. Ich wollte schon losgehen, um Felix Bescheid zu geben, als mich meine Schwester
zurückhielt.

"Maddy!", sagte sie kraftlos und erhob sich schwerfällig.

"Lege dich doch wieder hin!", sagte ich und drückte sie mit sanftem Druck zurück in die Liegeposition.

"Maddy", sagte sie wieder, "du musst alleine zu Felix gehen! Er hat sich echt Mühe gegeben, hat schon seit Tagen an dem Menü gefeilt und war heute Morgen auf dem Großmarkt, um frische Zutaten zu kaufen. Er möchte das Prüfungsessen unbedingt proben, bitte, gehe du allein!". Diese wenigen Worte hatten sie so erschöpft, dass sie ihre Augen schloss. So konnte sie nicht sehen, wie entsetzt ich war.

 

Ich? Allein zu Felix???

Der Gedanke war eigentlich unvorstellbar. Ich hatte überhaupt nichts mit Felix zu tun, auch wenn wir uns schon einige Jahre kannten. Wir hatten uns ignoriert, so unterschiedlich wie wir waren, und das hätte auch so bleiben können. Gut, ich hatte dem Essen zugestimmt, aber doch nur, weil ich dachte, dass Viola dabei sein würde und sie heute Abend die Gespräche mit Felix führen würde. Wenn ich allerdings alleine dort war, musste ich das dann selbst machen, und das war nun doch ein unangenehmer Gedanke.
"Maddy", vernahm ich erneut Violas schwache Stimme, "bitte! Wo soll er denn so schnell einen Ersatz herbekommen? Du musst doch nur essen und deine Meinung dazu sagen, mehr nicht. Ihr werdet euch doch eh kaum sehen, weil er ja in der Küche arbeitet. Nimm dir halt eines deiner geliebten Bücher für die Pausen zwischen den Gängen mit, dann ist doch alles in Butter". Sie hatte langsam gesprochen, weil sie so erschöpft war. Doch ihre Worte entsprachen der Wahrheit. Ich konnte Felix jetzt nicht hängen lassen, außerdem würde ich ihn kaum sehen.

"Ich gehe", sagte ich mehr zu mir selbst denn zu Viola, die jedoch ein zufriedenes "Gut", vor sich hinmurmelte, bevor sie wieder einschlief.

 

Und ich machte mich auf den Weg nach oben in unser Zimmer, um mich für den heutigen Abend umzuziehen.

Als ich dann auf das feine Restaurant am Rande der Altstadt von Sunset Valley zuging, kam ich mir vor, als wäre ich auf dem Weg zu meiner Henkersmahlzeit. Das war natürlich völlig übertrieben, und die Tatsache, dass ich mich jetzt so anstellte, ärgerte mich noch mehr. Das zog meine Laune zusätzlich runter, und ich befand mich in einem regelrechten Teufelskreis.

 

Jetzt stell` dich doch nicht so an, mahnte ich mich selbst und besah mir die schöne Dekoration hier draußen vor dem Eingang. 

Es würde schon alles gut gehen. Felix und ich würden ja eh kaum reden können, er würde sicher in der Küche beschäftigt sein, und so würde es mir wohl erspart bleiben, auf seine Sprüche besonders cool und schlagfertig reagieren zu müssen. Außerdem war er der Freund meiner Schwester, also sollte ich mir keine Sorgen machen, dass er mir gegenüber komisch war. Ich war nur gespannt, wie er reagierte, wenn er sah, dass Viola nicht dabei war. Ich hatte noch versucht, ihn anzurufen, aber er war nicht mehr ans Telefon gegangen. Entweder, er hatte es gar nicht in der Küche dabei oder hatte in dem Moment nicht abheben können, das könnte ja auch sein. Nun musste ich ihm von Angesicht zu Angesicht sagen, dass er heute Abend mit mir allein vorlieb nehmen musste. 

 

Ich seufzte noch mal auf, bevor ich an das Küchenfenster ging, das links von dem Eingang war, und klopfte ein paar Mal kräftig dagegen. Das war so mit Felix verabredet, denn da heute in dem Restaurant Ruhetag war, musste er die Türe verschlossen halten. Und er hatte gemeint, dass er das Klopfen am Fenster noch am ehesten hören würde.

Nach kurzer Zeit öffnete sich dann die Tür und ein strahlender Felix stand vor mir. Er hatte seine weiße Kochjacke an und mir fiel auf, dass ich ihn so zum ersten Mal sah.

"Hallo, schön dass ihr gekommen seid!", begrüßte er mich und sah hinter mich, wohl um nach Viola zu sehen. Jetzt war es an mir, ihm zu sagen, dass er heute allein für mich kochen würde.

"Ähm... Viola lässt dich grüßen. Sie liegt mit Fieber im Bett und kann leider nicht kommen", erklärte ich ihm, und sah die Enttäuschung sofort in seinen Augen aufblitzen.

"Oh", machte er dann auch. Und das war eindeutig nicht nur das Bedauern über Violas schlechten Gesundheitszustand. Mir war völlig klar, dass er nun - ähnlich wie ich - enttäuscht war. Natürlich hatte er gehofft, dass hier und heute seine Freundin sitzen würde, und nicht nur ihre Zwillingsschwester. Die Einladung an mich war ja eh mehr pro forma gewesen, weil ich an dem Abend im Prohibition dabei gewesen war. Aber wichtig war ihm natürlich die Meinung von Viola gewesen, so viel stand fest. Meine Laune sank noch mal mehr in den Keller. Super, da konnte ich dann für Felix die Kartoffeln holen gehen...

"Das tut mir leid", sagte dann Felix. "Aber schön, dass du gekommen bist!". Ja, klar.

"Hey", sagte ich und versuchte zu lächeln, "immerhin gibt es hier ein kostenloses Essen. Wer kann dazu schon nein sagen". Nun lächelte auch er mich wieder an.

"Komm, ich zeige dir deinen Tisch, dann kannst du es dir schon bequem machen", sagte er dann zu mir und führte mich an den einzigen eingedeckten Tisch hier. Es war für zwei Personen gedeckt, natürlich. Felix legte ein Blatt Papier hin und wandte sich wieder an mich:

"Hier kannst du mal sehen, mit was ich dich heute quälen möchte", zwinkerte er. Dann wurde er wieder etwas ernster. "Es wäre sehr wichtig, wenn du mir absolut ehrlich sagst, wie du das Essen findest, ja? Du weißt ja, dass ich dieses Menü auch bei der Prüfung kochen werde"

"Ja, da weiß ich. Keine Sorge, ich werde absolut schonungslos sein", flachste ich, weil ich diese Situation, die für uns beide nicht leicht war, etwas auflockern wollte.

"Okay. Dann gehe ich jetzt in die Küche und mache die Vorspeise fertig. Mache es dir gemütlich", forderte er mich auf und schob mir noch den Stuhl zurecht, auf dem ich mich nach seiner Aufforderung hinsetzte. Er deckte Violas Geschirr ab und verschwand dann in der Küche, während ich mich zuerst etwas in dem Raum, dann auch auf dem gedeckten Tisch umsah. Das hier war alles sehr edel, und mir wurde schlagartig klar, weshalb er Viola und mich gefragt hatte, ob wir zu diesem Essen kommen wollten. Schließlich wusste er ja, dass wir uns wegen der Firma öfter mal in so einem Ambiente bewegten und deshalb ein Urteil bilden konnten. Dann nahm ich die Speisekarte zur Hand.

Mir lief sofort das Wasser im Munde zusammen, das alles hörte sich ja schon mal sehr lecker an! Es irritierte mich irgendwie, dass ausgerechnet Felix dieses Gericht zubereiten würde. Irgendwie passte das Bild von Felix in einem solchen Restaurant noch nicht in meinem Kopf zusammen. Ich kannte ihn ja nun schon eine ganze Weile, nicht so gut wie Viola natürlich, aber als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, hatte er noch blaue Strähnen in den Haaren und liebte Nieten. Sein Stil war recht ungewöhnlich, ähnlich wie Violas, weshalb die beiden einfach perfekt zueinander passten. Gut, die Haare waren nicht mehr gefärbt, aber ansonsten war er trotzdem ein verrückter Kerl. Ihn deshalb jetzt in diesem Ambiente als Koch dieses erstklassigen Essens zu erleben war mehr als seltsam.

 

Es dauerte keine zehn Minuten, als Felix mit der Suppe kam.

"Ich wünsche dir einen guten Appetit, Madeleine", sagte er, und ich betrachtete die schön angerichtete Tomatensuppe mit den Jakobsmuscheln.

"Danke!", sagte ich, während Felix wartete, bis ich meinen ersten Löffel gekostet hatte.

Hmm! Sehr lecker, die Suppe schmeckte gut, und auch die Jakobsmuscheln waren super, weil wirklich nur das genießbare Muskelfleisch genommen worden war. Felix beobachtete meine Reaktion auf das Essen.

"Superlecker", erlöste ich ihn dann endlich, und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.

"Dann ist es ja gut. Ich hatte schon die Befürchtung, dass ich die Muscheln zu lange in der Pfanne gehabt habe", sagte er erleichtert. Ich schüttelte den Kopf.

"Die Muscheln sind auf dem Punkt".

"Gut, dann wollen wir mal hoffen, dass das bei der Prüfung genau so sein wird. Entschuldige mich für einen Moment, ich muss nach dem Rinderfilet schauen", sagte er und ging wieder in die Küche, während ich nun die Suppe genoss. Als ich fertig war, kam Felix zurück, nahm jedoch nicht den Teller, sondern setzte sich ebenfalls an den Tisch, legte einen Zettel und einen Stift vor sich hin und fragte mich:

"Okay, wie ist dein Resümee zur Vorspeise?". Bevor ich ihm antworten konnte, musste ich erst mal verdauen, wie gewohnt er solche Worte wie "Resümee" verwendete. Stand hier vielleicht ein Klon des Felix, den ich kannte?

"Mein Resümee? Auf den Punkt gegart, gut gewürzt, schön angerichtet. Wenn du das auch so bei der Prüfung machst, kann gar nichts schiefgehen", meinte ich überzeugt. Felix hatte nichts mitgeschrieben und sah mich fest an.

"Es gibt wirklich nichts, was man hätte besser machen können?", hakte er nach und ich schüttelte den Kopf.

"Nein, nichts", antwortete ich.

"Nun denn", meinte er, legte den Stift zur Seite, räumte dann den Suppenteller ab und ging wieder in die Küche zurück.

Weil es bis zur Hauptspeise sicher noch einige Zeit dauern würde, sah ich mich in dem Restaurant um. Wir hatten hier mal vor zwei Jahren gegessen, es war ein Essen mit Geschäftsfreunden meiner Eltern und deren Kindern gewesen. Aber damals war ich 14 Jahre alt gewesen und hatte für die Einrichtung nicht wirklich viel übrig gehabt.

Während meines Rundgangs hatte ich es mir auch nicht nehmen lassen, einen Blick in die Küche zu werfen, wo Felix an der Hauptspeise feilte. Ich sah ihm zu, wie er konzentriert kochte, mit schnellen Handgriffen schnitt und rührte, und ging erst dann zügig zu meinem Platz, als er meinen Teller anrichtete.

Er kam dann kurz darauf mit dem schön angerichteten Teller, wünschte mir erneut einen guten Appetit und wartete auf meine erste Reaktion. Ich schnitt zuerst von dem Filet ab, welches mir sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Schön rosa war es innen, man sah es schon, dass auch das auf den Punkt gegart worden war. Und als ich es kostete, war das einfach ein Gaumenfest. Als ich geschluckt hatte, sah ich Felix an.

"Und?", fragte er erwartungsvoll. Ich lächelte ihn an.

"Einfach fantastisch", sagte ich ehrlich.

"Im ernst jetzt?"

"Ja, absolut. Du hast doch sicher in der Küche gekostet und musst doch wissen, dass das hier einfach genial ist", antwortete ich.

"Klar habe ich gekostet, aber es ist doch noch was anderes, eine andere Meinung zu hören, vor allem, wenn es so ein wichtiges Essen ist", meinte er, und dann dachte ich gar nicht lange nach, sondern schnitt von dem Filet ab und hielt ihm die Gabel hin.

Er zögerte noch kurz, zu mir zu kommen. Und in dieser Zeit bohrten sich unsere Blicke ineinander. Und mir war plötzlich ganz klar, was ich hier tat, konnte aber nun die Gabel natürlich nicht mehr zurückziehen. Genauso wenig, wie er dieses Angebot ausschlagen konnte. Felix kam also näher, öffnete seinen Mund und ich schob ihm die Gabel hinein. Er nahm das Fleisch nur mit den Zähnen und versuchte, meine Gabel nicht mit seinen Lippen zu berühren, was zur Folge hatte, dass ich nun seinen Mund anstarrte. Und feststellte, dass er tolle Lippen hatte.

 

"Hm, gar nicht mal so schlecht", riss mich Felix aus meinen ausufernden Gedanken, und ich war froh darum. Wie elektrisiert zog ich meinen Arm zurück.

"Sage ich doch", krächzte ich und nahm schnell einen Schluck des Rotweines, den mir Felix nach dem Servieren der Hauptspeise eingeschenkt hatte. "Die Bohnen sind auch genial, solltest du ebenfalls probieren", sagte ich so, als wäre nicht er der Koch dieses Gerichts. Nun zog sich ein Lächeln über seinen Mund, und als ich ihm diesmal die Bohnen in den Mund schob, ließ er mich dabei nicht aus den Augen.

"Nicht übel", meinte er, als er geschluckt hatte. Fasziniert beobachtete ich, wie er sich seine Lippen abschleckte und ließ langsam die Gabel sinken. Wieder sahen wir uns an, und die Luft war in diesem Moment dermaßen spannungsgeladen, dass es mich kribbelte. Es war unfassbar, wie Felix plötzlich auf mich wirkte. Toll, ein bisschen Kerzenlicht und ein gutes Essen, und meine Hormone spielten verrückt. Ich unterbrach den Moment dann, in dem ich weg sah, in meinem Teller rumstocherte und ihn dann fragte:

"Wie bist du auf die Idee gekommen, Koch zu werden? Ich meine, es ist ja anscheindend genau das, was du auch tun solltest, aber wann hast du bemerkt, dass du das machen möchtest?". Felix räusperte sich kurz, dann antwortete er:

"Ich möchte das schon sehr lange machen. Angefangen hat es wahrscheinlich, als ich immer mal wieder bei meinem Onkel ausgeholfen habe, du weißt schon, den Besitzer der Disco "Schinderei". Dort gibt es ja nun keine große Küche, eher nur ein paar Snacks, aber wenn ich in der Küche geholfen habe, hat mir das einfach viel Spaß gemacht. Die Praktika, die man von der Schule aus machen muss, habe ich dann natürlich auch immer in Restaurants gemacht, und ab da war es dann ganz klar, dass ich das beruflich machen möchte", erzählte er.

"Ich finde es schön, dass du das so eindeutig weißt", sagte ich und erinnerte mich wieder daran, dass ich immer noch keine Ahnung hatte, was ich nach dem Abi tun könnte.

"Deine Schwester hält den Beruf für ziemlich spießig", lachte er. Oh, das konnte ich mir gut vorstellen! Für Viola war so ziemlich alles spießig, was einem geregelten Plan folgte.

"Ich weiß", sagte ich und stimmte in sein Lachen ein.

Felix holte dann das Dessert. Er kam mit zwei Tellern zurück, wovon er einen davon vor mir hin stellte. Darauf befand sich die weiße Mousse, die mit den Orangenscheiben dekoriert war, daneben in einem eigenen Schälchen war das Sorbet. Er selbst hatte sich den gleichen Teller angerichtet und stellte ihn nun auf den Platzteller, wo Viola gesessen wäre.

"Wenn die Dame es gestattet, würde ich mich gerne dazu setzen", sagte er.

"Dummkopf", sagte ich nur, weil diese Frage ja nun wirklich komplett überflüssig war, und Felix lachte kehlig auf, bevor er sich setzte. Ich jedoch wandte meine Aufmerksamkeit nun dem Dessert zu und nahm einen Löffel von der Mousse. Cremig, luftig und mit Schokostückchen - genauso, wie ich das mochte. Ich schloss für einen Moment genießerisch die Augen, während die Schokomousse auf meiner Zunge zerging. Als ich meine Augen wieder öffnete, starrte mich Felix an. Oh Gott, wie peinlich! Ich wurde augenblicklich feuerrot und nahm nun einen Löffel von dem Sorbet, etwas Kühles konnte ich jetzt gut gebrauchen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie auch Felix von dem Dessert kostete.

"Was möchtest du eigentlich nach eurem Abi machen? Viola möchte ja zuerst mal ein bisschen in der Welt herumreisen", begann dann Felix erneut ein Gespräch. Und traf da den Punkt, der mir am meisten zusetzte. Was sollte man auch machen, wenn man bisher seine Nase nur in Bücher gesteckt hatte? Wenn man kein besonderes Talent besaß?

"Ich weiß es nicht", musste ich deshalb zugeben.

"Noch keine Idee? Na, du hast ja noch ein bisschen Zeit. Und mit deinem Notenschnitt stehen dir eh alle Türen offen", meinte er.

"Genau", stimmte ich ihm halbherzig zu.

"Vielleicht solltest du dir überlegen, was du gerne machst. Außer lernen natürlich", grinste er, weil er natürlich schon oft mitbekommen hatte, wie ich meine Nase in die Bücher gesteckt hatte. Leider gab es da nur eine Sache, aber mit der würde ich kein Geld verdienen können...

"Nur Gitarre spielen. Aber völlig talentfrei, weshalb ich damit sicher kein Geld verdienen könnte", antwortete ich.

"Du spielst echt Gitarre? Warum weiß ich das denn nicht?", freute er sich plötzlich.

"Ähm, keine Ahnung? Ich habe wohl nie gespielt, wenn du mal bei uns warst"

"Oder du hast absichtlich nicht gespielt, damit ich dich nicht höre", folgerte er völlig richtig. Eine leichte Röte zog über meine Wangen. Ich spielte schon ungern vor meinen Familienmitgliedern, weil ich nicht gerade mit viel Talent gesegnet war, aber vor Fremden wirklich nie. Natürlich hatte er mich niemals mit einer Gitarre in der Hand gesehen, geschweige denn gehört.

"Quatsch", sagte ich dann nur, konnte ihn dabei aber nicht ansehen. Was ich noch weniger konnte als Gitarre zu spielen war zu lügen. Und als ich wieder aufblickte, sah er mich grinsend an.

"Aber gut zu wissen. Ich spiele ja auch, dann komme ich mal zu euch und wir spielen etwas gemeinsam", sagte er völlig leichthin.

"Aber mit Sicherheit nicht", wies ich seinen Vorschlag entschieden zurück.

"Warum denn nicht?, wollte er wissen. "Das wäre doch sicher sehr spaßig".

"Wäre es nicht. Spiel du ruhig mit dir selbst, und ich zupfe auf den Saiten herum, wenn es möglichst wenige Leute hören. Aber danke der Nachfrage", sagte ich.

"Feigling", schoss er mir entgegen und sein Grinsen wurde noch breiter.

"Glaube mir, ich denke nur an deine Hörfähigkeit, wenn ich dir das erspare"

"Das sollte ich schon selbst entscheiden dürfen", gab er nicht auf.

"In diesem Falle eher nicht, nein", widersprach ich und musste ob unseres Wortwechsels nun doch schmunzeln. Während wir die Reste des Desserts aßen, kamen wir in eine rege Unterhaltung. Und weil die nichts mit meiner zukünftigen Berufswahl oder dem Gitarre spielen zu tun hatte, fiel es mir nicht schwer, mit ihm zu reden. Zumal Felix einen köstlichen Humor besaß und mich öfter zum Lachen brachte.

Doch irgendwann waren die Teller leer, das Essen war beendet, und damit auch der Grund, weshalb ich hergekommen war. Felix wollte noch einmal wissen, was er hätte besser machen können, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein und hoffte, dass mein Urteil auch korrekt war. Ich sah ihm die Erleichterung über das positive Feedback deutlich an.

"Du kannst ganz beruhigt in deine Prüfung gehen. Wann genau ist die noch mal?", wollte ich von ihm wissen.

"In genau vier Wochen", antwortete er. Ich war schon versucht, ihm zu sagen, dass ich an dem Tag an ihn denken würde, konnte mich aber gerade noch rechtzeitig bremsen und sagte stattdessen:

"Ich drücke dir die Daumen, wobei das ja eigentlich gar nicht nötig ist"

"Dein Wort in Gottes Ohr", sagte er.

Dann geleitete er mich zur Tür.

"Vielen Dank, Madeleine! Dafür, dass du gekommen bist und mein Essen beurteilt hast. Das hat mir sehr viel geholfen", sagte er beim Abschied.

"Gern geschehen. Eigentlich muss ich mich ja bei dir bedanken. Für das tolle Essen und einen lustigen Abend", sagte ich. Ich sah ihm in seine Bernsteinaugen und hätte gerne noch etwas Geistreiches oder Witziges gesagt, doch mir fiel nichts ein.

"So weit kommt es noch, dass du dich bei mir bedankst!", entrüstete er sich. "Immerhin hast du einen ganzen Abend für mich geopfert"

"Ja, das ist natürlich schon hart", flachste ich. "Was für eine Strafe, ein Drei-Gang-Menü kostenlos essen zu müssen".

"Eben", haute er in die gleiche Kerbe. "Da werde ich mir was als Entschädigung einfallen lassen müssen". Wir grinsten uns an und in seinen Augen blitzte der Schalk, doch dann gab es leider überhaupt keinen Grund mehr, noch länger hier zu bleiben. Also verabschiedete ich mich, und Felix ließ mich hinaus.

Als ich in die Nacht hinaustrat, spürte ich erst richtig meine erhitzten Wangen. Ich verstand jetzt auch, warum sich Viola mit Felix angefreundet hatte. Er war einfach erfrischend anders als andere Jungs.

 

Puh Madeleine, jetzt beruhige dich mal wieder, sagte ich mir selbst. Denn ich hatte nicht gerade ein gutes Händchen, was Jungs betraf. Begonnen mit dieser peinlichen Sache mit Adam, der mich auch jetzt noch hauptsächlich ignorierte und auch in der Buchhandlung nur das Nötigste mit mir sprach, bis hin zu einem Jungen, der eine Klasse über mir war und mich ebenfalls nie bemerkt hatte, würde ich jetzt mit Felix echt den Vogel abschießen. Nein, dem müsste ich wohl sofort den Riegel vorschieben, so viel stand fest.

Vier Wochen später hatte ich trotzdem den ganzen Tag an Felix gedacht. Obwohl ich mir denken konnte, dass er seine Prüfung gut schaffen würde, hatte ich ihm gedanklich viel Glück gewünscht. Und wie so oft in den letzten vier Wochen hatte ich zu meiner Gitarre gegriffen und spielte, zumindest versuchte ich es. Ein Ohrenschmaus war sicher was anderes, aber mir war so danach, meine Akkorde zu üben oder mich an einer schönen, ruhigen Melodie zu erfreuen. Auch jetzt spielte ich eine Ballade. Viola kam dann in mein Zimmer und ich hörte sofort auf, zu spielen.

Notenbild ist verlinkt und führt zu einem Video.

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"Hey, das hört sich gar nicht schlecht an!", sagte sie zu mir.

"Klar", gab ich trocken zurück. "Dir macht es ja sicher nichts aus, mit dieser Meinung alleine dazustehen".

"Oh Mann, Maddy!", machte Viola. "Jetzt sei doch nicht immer so!". Ich seufzte auf, wollte dieses Thema aber nicht vertiefen sondern fragte:

"Und? Hast du schon was von Felix gehört?"

"Ja, gerade eben. Er hat die Prüfung bestanden", sagte sie mir, und ich freute mich wirklich.

"Genial", sagte ich dann auch und konnte es nicht verhindern, dass sich meine Mundwinkel nach oben zogen. "Ist er unten?". Viola hatte ihr Zimmer jetzt im Keller, sie bewohnte das Zimmer, das ursprünglich Sam gehört hatte.

"Nein, er ist noch gar nicht in Sunset Valley, sondern geht jetzt erst Mal feiern", grinste Viola.

Felix hatte seine Prüfung nicht hier sondern in Bloomington ablegen müssen, einer Stadt etwa 30 Minuten von hier entfernt. Und ich fragte mich augenblicklich, mit wem er jetzt feiern war.

"Und du bist da nicht dabei?", fragte ich meine Schwester.

"Nee, was soll ich auch mit diesen ganzen Köchen und Köchinnen einen ganzen Abend lang reden", entrüstete sie sich gespielt. "Nein, er ist dort mit den Leuten aus seiner Berufsschule, die mit ihm heute Prüfung hatten, und ich gehöre da jetzt nicht dazu".

"Sicher", gab ich zurück. Und fühlte mich irgendwie seltsam. Wenn sich schon Viola fühlte, als gehöre sie da nicht dazu, wie wenig wäre das dann erst bei mir der Fall? Ich musste wirklich aufhören, so über Felix zu denken, und seufzte hörbar auf. Das war natürlich Viola nicht entgangen, und sie sah mich plötzlich forschend an.

"Maddy, ich bin nun nicht gerade dafür bekannt, feine Antennen zu haben, aber was ist mit dir in letzter Zeit eigentlich los? Irgendetwas ist doch!". Ich erschrak fürchterlich und setzte mein neutralstes Gesicht auf, was ich im Moment hervorzaubern konnte.

"Was soll denn sein? Du weißt doch, dass ich von unserem netten Herrn Schulleiter dazu verdonnert worden bin, diese dämliche Rede für das Schuljubiläum zu halten. >Mit deinen herausragenden Noten bist du dafür am besten geeignet<", äffte ich unseren Schulleiter nach und verdrehte die Augen.

"Und das setzt dir so zu?", hakte sie nach.

"Wie würdest du dich da fühlen?", stellte ich eine Gegenfrage.

"Bescheuert natürlich", sagte sie ehrlich. "Man weiß genau, dass so etwas kein Mensch in der ganzen Aula interessiert und muss sich trotzdem den Arsch aufreißen".

"Viola!", tadelte ich sie kopfschüttelnd für ihre Ausdrucksweise.

"Was denn? Wenn ich nicht mal mit dir so reden kann, wie ich will, ja mit wem denn dann?". Ich schüttelte leicht den Kopf und dachte noch mal über ihre Worte wegen der Rede nach. Denn das war das eine, etwas machen zu müssen, von dem man wusste, dass es den Großteil der Leute gar nicht interessierte. Aber zum anderen war ich mit der Aufgabe auch genau die Falsche, denn ich konnte nicht vor Leuten reden. Schon bei Referaten konnte ich drei Tage davor nicht richtig schlafen, weil ich so eine Angst hatte, mich völlig zu blamieren. Meine Mutter hatte mir schon helfen wollen und gesagt, dass es ihr sogar heute noch so ging, es aber immer besser geworden war und das bei mir sicher auch mal so war, doch bis jetzt hatte ich eher das Gefühl, als könnte ich es immer weniger, je älter ich wurde.

"Du machst dir also wegen der Rede Gedanken?", bohrte Viola noch mal nach, und ich nickte. Das war nicht gelogen, die Rede beschäftigte mich zur Zeit wirklich stark. Dass mir noch ein anderer Gedanke immer wieder im Kopf herumspukte, musste sie ja jetzt nicht wissen. Ausgerechnet sie!

Viola war so lange schon mit Felix befreundet, und ich hatte gerade mal einen einzigen Abend mit ihm verbracht. Aber es war gut so. Ich hatte mir ja eh vorgenommen, mich gedanklich nicht weiter mit ihm zu beschäftigen, auch wenn ich damit bis jetzt nicht so erfolgreich gewesen war. Aber ich würde das schon schaffen, deshalb klagte ich jetzt noch mal mein Leid wegen der Rede, und sie bot mir daraufhin an, dass sie mir gerne helfen würde, wenn ich das wollte.

"Außerdem müssen wir noch irgendwie verdauen, dass unsere Eltern das Buffet sponsern", meinte sie und verzog dabei so sehr das Gesicht, als würde sie unter starken Schmerzen leiden. Herrje, daran hatte ich ja gar nicht mehr gedacht!

"Stimmt", sagte ich nicht weniger kläglich. "Eine Katastrophe. Das steht ja dann auch groß und breit in den Heftchen, die jeder Besucher bekommt"

"So ist es. Ich suche mir dann schon mal einen Beauty-Doc, um mein Gesicht verändern zu lassen. So kann man sich ja nicht mehr blicken lassen", setzte Viola noch oben drauf, und ich grinste sie schief an. Der Abend würde eine einzige Katastrophe werden. Warum konnte der nicht einfach schon vorbei sein?

Als sich Viola dann wieder auf den Weg zu ihrem Zimmer machte, um an irgendwelchen Schaltplänen und anderem Technikkram zu feilen, bedankte ich mich noch mal bei ihr für ihr Angebot, mir zu helfen, wenn ich sie brauchte. Ihr Faible für Technik lebte sie inzwischen nicht nur als Hobby aus, sondern arbeitete in den Ferien ab und zu in der Firma mit.

Irgendwann am Wochenende setzte ich mich dann auf den Hosenboden, um endlich an dieser Rede zu arbeiten. Wie sollte ich die Leute begrüßen? Von was nur sollte ich erzählen? Unsere Schule gab es seit 40 Jahren, prima. Damit gehörte sie zu ungezählten anderen Bildungseinrichtungen, die im gleichen Jahr gebaut worden waren, was Besonderes war das also wirklich nicht. Doch ich musste es genau so aussehen lassen. Ich seufzte auf, nahm einen Stift in die Hand, um mir mal ein paar Stichworte aufzuschreiben. Erfreulicherweise fielen mir immer mehr Dinge ein, je länger ich schrieb. Ich nahm das Buch zur Hand, welches vor 10 Jahren zu dem damaligen Jubiläum gedruckt worden war, um an die ganz frühen Informationen zu kommen, ergänzte dann Ereignisse aus den letzten Jahren, die ich selbst mitbekommen hatte. Wie gut, dass ich mir Dinge so gut merken konnte.

Während ich so vor mich hin schrieb, klingelte es an der Tür, und weil ich der Tür am nächsten war, öffnete ich sie arglos. Felix stand davor, den ich seit unserem Essen nicht mehr gesehen hatte. Und konnte es nicht verhindern, mich richtig zu freuen, ihn zu sehen.

"Hey!", begrüßte ich ihn.

"Hey, Madeleine! Wie geht es dir?"

"Gut, danke. Gratulation zur bestandenen Prüfung!", sagte ich ihm, und sein Gesicht hellte sich auf.

"Danke. Ohne dich wäre es nicht so gut gelaufen", flachste er.

"Ich bin mir zwar sicher, dass ich zu diesem Erfolg genau gar nichts beigetragen habe, nehme die Lorbeeren aber dankend an. Die kann ich heute besonders gut gebrauchen". Ich machte ihm den Weg ins Haus frei, und während wir hinein gingen, fragte er.

"Warum? Ist alles in Ordnung?". Ich erzählte ihm in kurzen Worten von dieser dämlichen Rede, und er besah sich im Esszimmer meine Aufzeichnungen, während ich Viola rief. Felix und sie waren verabredet, und sie war noch dabei, sich dafür fertig zu machen.

Als ich wieder am Tisch saß, sagte Felix:

"Das liest sich doch schon ganz gut", meinte er.

"Die Auflistung ist auch nicht das Problem", sagte ich ehrlich.

"Sondern?", hakte er nach.

"Das Vortragen", seufzte ich auf.

"Ah, verstehe", nickte Felix. "Ja, das ist unangenehm, das habe ich auch nie gerne gemacht. Wie gut, dass ich jetzt in meinem Beruf einfach im Hintergrund arbeiten kann, die Servicekräfte tun mir öfters mal leid".

"Ja, und ich weiß noch nicht mal, wie ich die ganze Meute begrüßen soll", meinte ich niedergeschlagen.

Plötzlich stand Felix auf.

"Dann werden wir das jetzt doch gleich mal üben", sagte er und zog mich ebenfalls vom Stuhl hoch.

"Was?", fragte ich geschockt nach. Er wollte doch damit nicht etwa sagen, dass er jetzt hören wollte, wie ich diese Rede beginnen würde, oder?

"Das ist doch die passende Gelegenheit, meine Schuld auszugleichen"

"Welche Schuld denn? Du musst gar nichts ausgleichen, und ich werde dich hier jetzt nicht mit diesem langweiligen Thema vollquatschen", sagte ich entrüstet.

"Na, du hast einen ganzen Abend für mich geopfert, jetzt werde ich doch auch dir helfen können. Also, lass hören". Ich starrte diesen völlig verrückten Kerl an. Ich würde keinen Ton herausbringen! Dann lieber vor dieser ganzen Aula reden als jetzt vor Felix!

Doch er hatte seine Worte total ernst gemeint.

"Komm, Madeleine! Wenn du es jetzt schon mal vor mir übst, bist du nachher viel ruhiger vor den Aulagästen", meinte er, und da war was Wahres dran. Doch sofort schnürte sich mir die Kehle zu, ich war so aufgeregt wie immer, wenn ich vor Leuten sprechen musste, und er machte da keine Ausnahme. Also stotterte ich irgendeinen Anfang. Doch es war furchtbar, und ich brach nach kurzer Zeit ab. Felix hatte mich die ganze Zeit aufmerksam beobachtet.

"Ich kann das nicht. Ich bin noch zu wenig vorbereitet", sagte ich leise.

"Das ist nicht das Problem", sagte er ernst und ich sah ihn fragend an. "Das Problem ist, dass du davon ausgehst, schlecht zu sein und das auch so ausstrahlst. Du solltest dich mal sehen, wie verkrampft du hier stehst". Ja, war das denn ein Wunder?

"Das überrascht mich nicht", sagte ich etwas eingeschnappt. So eine Kritik zu hören war nicht leicht, und wenn sie von einem Jungen kam, der praktisch die Reinkarnation der Coolness war, gleich zweimal nicht. Er hatte zwar gesagt, dass er so etwas ebenfalls nie gern gemacht hatte, aber ich war mir sicher, dass er es gut gemacht hatte. Jemand wie Felix überspielte Schwachstellen, konnte improvisieren und Fehler einfach weg lächeln. Der hatte kein Problem damit, irgendeinen Mist zu erzählen und dabei noch gut auszusehen.

"Mich, um ehrlich zu sein, auch nicht", sagte Felix, und das traf mich wirklich hart.

"Danke. Dann ist ja alles gesagt, und du kannst ja auch unten auf Viola warten", sagte ich, drehte mich um und ging zu meinem Block. Doch Felix dachte nicht daran, mich jetzt in Ruhe zu lassen.

"Vor was hast du Angst? Etwa davor, Fehler zu machen? Eine Einser-Schülerin??? Oder davor, dass dir etwas an der Nase kleben wird? Ein Mädchen, dass immer wie aus dem Ei gepellt aussieht?", sagte er eindringlich. "Du hast keinen Grund, Angst zu haben. Ich wette, dass du dich bestens auf diese Rede vorbereiten wirst, und sie werden dir gebannt an deinen Lippen hängen".

"Werden sie nicht", sagte ich, von seinen Worten aufgestachelt. "Das haben sie nie und werden sie auch nie". Und zwar aus dem Grund, weil ich einfach nicht interessant reden konnte. Ich leierte meine Fakten runter und war jedesmal froh, wenn ich mit meinem Vortrag fertig war.

"Aber das liegt an dir!", sagte mir Felix auf den Kopf zu.

"Das weiß ich auch! Aber ich kann es nicht ändern!"

"Dann wird es Zeit, dass du damit beginnst. Es ist unfassbar, dass jemand mit solchen Noten so eine Angst hat, etwas Falsches zu sagen. Leute wie du müssten sich doch schon allein durch ihr Wissen sicher fühlen".

"Das hat doch nicht das Geringste mit meinen Noten zu tun", gab ich zurück. "Sondern einfach, dass ich es schrecklich finde, Menschen unterhalten zu müssen. Ich weiß, dass der Inhalt meiner Rede korrekt sein wird, was denkst du denn, warum ich das jetzt schon vorbereite? Ich muss das erst in sechs Wochen vortragen, aber eine gute Vorbereitung war nie mein Problem. Nur wie trage ich das vor, dass mir die Leute nicht einschlafen?"

"Sind denn jemals Leute bei einem deiner Vorträge eingeschlafen?", hakte Felix nach.

"Ähm, nein, natürlich nicht", sagte ich verwirrt.

"Warum hast du dann Angst davor?". Das war eine gute Frage. Und weil ich nichts antwortete, sprach er weiter:

"Wusste ich es doch. Also, wir machen es anders. Du hast ja sicher irgendein Thema in der Schule, an dem ihr gerade arbeitet und das dir Spaß macht. Dann machen wir jetzt mal so, als würdest du darüber referieren. Ich bin dein Publikum, du begrüßt mich und legst dann los". Ich wollte schon widersprechen, doch Felix schüttelte nur den Kopf. "Nur eine kleine Übung, Madeleine!". Er hatte ja recht, es würde mir bestimmt helfen, wenn ich das jetzt übte. Also überlegte ich mir, welches Thema mich in der Schule interessiert hatte, und kam sofort auf die Plattentektonik in Erdkunde. Ich rief mir ein paar der Infos ab und dann begann ich zu sprechen.

 

Ich begrüßte Felix als mein Publikum und legte dann los, über das zu sprechen, was wir in den letzten Stunden in Erdkunde gelernt hatten. Nun merkte ich selbst, dass es mir leichter fiel, einfach, weil ich das Thema interessant fand. Wieder sah mir Felix aufmerksam zu. Eigentlich sollte es mich nervös machen, so genau von ihm gemustert zu werden, doch es passierte etwas ganz anderes: Ich fühlte mich plötzlich ganz ruhig. Es war, als würde Felix über mich einen schützenden Kokon spinnen, ich fühlte mich viel sicherer. Und das hörte man meiner Rede natürlich auch an.

Als ich dann geendet hatte, lächelte auch Felix.

"Na, das war doch schon viel besser! Wenn du gerne über ein Thema sprichst, bist du überhaupt nicht verkrampft", stellte er fest.

"Ja, nur leider kann man sich das nicht immer aussuchen", seufzte ich auf.

"Klar. Aber diese Rede für die Schule kannst du ja ganz frei gestalten", sagte er.

"Schon, aber das ist eine Rede, die niemand hören will, das blockiert mich"

"Wer sagt, dass die niemand hören will?"

"Ach, das weiß man doch. Würdest du sie hören wollen?", fragte ich ihn provozierend.

"Klar, warum nicht. Ich werde an dem Abend bei euch in der Aula sitzen". Nun erschrak ich doch ein wenig.

"Wirst du nicht. Das ist an einem Samstag Abend, da musst du arbeiten!", sagte ich bestimmt.

"Och, wenn ich da mal meine Schicht mit einem Kollegen tausche, tut das niemandem weh"

"Aber sicher doch. Du tauscht jetzt nur wegen dieser blöden Rede deine Schicht!", sagte ich und tippte mir an die Stirn. In dem Moment kam dann Viola zu uns.

"Na, versteht ihr euch?", fragte sie lachend, weil sie meine Vogel-Geste natürlich gesehen hatte.

"Bestens", sagte Felix und grinste meine Schwester an. "Und du bist fertig?"

"Ja, wegen mir können wir los"

"Super", freute sich Felix.

Viola und Felix hatten ihren Spaß, und ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Die zwei waren einfach ein eingespieltes Team, und ich kam mir plötzlich wie ein Eindringling vor, weshalb ich den beiden dann einen schönen Abend wünschte. Ich schnappte mir meinen Block und die Stifte und ließ sie allein.

 

In meinem Zimmer feilte ich dann weiter an meiner Rede. Es fiel mir jetzt leichter, denn ich dachte an die Worte von Felix und daran, dass ich selbst dafür verantwortlich war, ob ich Spaß dabei haben würde, diese Rede zu halten oder nicht. Und das stimmte auch. Und noch etwas war jetzt anders. Ich schrieb sie jetzt so, als würde sie Felix tatsächlich hören. Er würde ganz sicher an dem Abend nicht im Publikum sitzen, das war wohl nur so dahergesagt, aber ich stellte mir vor, als würde er kommen. Stellte mir vor, als würde es nichts Spaßigeres geben, als meiner Einleitungsrede zu den Festivitäten für das 40jährige Schuljubiläum zu lauschen. All diese Gedanken bewirkten dann tatsächlich, dass es mir viel leichter fiel.

Der Tag des Jubiläums rückte unbarmherzig näher und heute war es tatsächlich soweit: Ich musste hier in der Aula die Gäste begrüßen. Mit laut klopfendem Herzen machte ich mich auf den Weg zu der kleinen Bühne, die aufgestellt worden war. Die Aula war zum Bersten voll - so voll hatte ich sie noch nie gesehen. Und vor dieser Menge musste ich also gleich reden, da half es auch nicht, mir einzureden, ruhig zu bleiben.

Bange sah ich in die Menge, erhaschte kurze Augenblicke von meiner Familie, die zusammen mit dem Schulleiter und dem Bürgermeister in der ersten Reihe saß. Während ich noch meinen Blick über die vielen Menschen gleiten ließ, begann ich einfach, zu reden. Log vor, dass ich mich freute, hier die Ehre zu haben, alle begrüßen zu dürfen.

Und dann, in der letzten Reihe, ganz in der dunklen Ecke versteckt, sah ich ihn. Felix. Er war tatsächlich gekommen. Er sah mich an, dann lächelte er mir zu. Das brachte mich kurz aus dem Konzept und ich musste mich räuspern, damit ich Zeit fand, meinen roten Faden wieder zu finden. Ich blickte auf meine Aufzeichnungen, so dass ich wusste, wo es weiter ging.

Und dann passierte das gleiche wie bei uns zu Hause: Meine Nervosität verflog. Ich erinnerte mich nämlich daran, dass Felix gesagt hatte, dass mir das Spaß machen sollte, und ich hatte mir Mühe gegeben, diese Rede so zu gestalten, dass das sowohl für die Zuhörer als auch für mich selbst zutraf. Ich flocht witzige Anekdoten ein, erzählte von Begebenheiten, die bisher nicht so bekannt waren und die ich nur durch meine Recherche herausgefunden hatte. Natürlich flossen auch die Fakten ein, das gehörte schließlich dazu.

 

Mein Publikum lachte an den richtigen Stellen, und das gab mir natürlich noch mehr Mut. Und immer, wenn ich Felix ansah, lächelte er mir zu.

Nachdem nicht nur ich, sondern auch die anderen Redner fertig waren und man nun zum gemütlichen Teil des Abends überging, kam Felix auf mich zu.

"Du hattest Spaß dabei, habe ich recht?", fragte er mich sofort, als er bei mir war.

"Und du bist verrückt. Hast du jetzt wirklich deine Schicht wegen dieser Feier hier getauscht?", überging ich seine Frage, weil er die Antwort ja eh wusste.

"Das habe ich dir doch gesagt", erinnerte er mich.

"Das schon, aber ich habe nicht geglaubt, dass du das tatsächlich machen würdest", gab ich zurück.

"Wenn ich etwas sage, dann mache ich es auch", zwinkerte er mir zu. "Du warst richtig gut. Hat dir das schon mal jemand gesagt?". Ich forschte in seinen Augen, ob er mich auf den Arm nehmen wollte. Doch er sah mich aufrichtig an, ich konnte in seinen Augen ohne Zweifel sehen, dass er seine Worte ernst gemeint hatte.

"Ähm, nein, ich glaube nicht", stammelte ich verwirrt.

"Dann war es an der Zeit", meinte er noch, bevor dann auch schon Viola zu uns stürmte, um ihren Freund ebenfalls zu begrüßen.

Während nun Viola ebenfalls wissen wollte, warum Felix an diesem Abend hier war, musste ich ihn immer wieder anstarren. Und konnte es doch nicht glauben, dass er tatsächlich gekommen war. Nur wegen dieser blöden Schulfeier hatte er jetzt seine Schicht mit einem Kollegen getauscht.

 

Ich konnte es nicht aufhalten, ihn immer mehr zu mögen. Ja, es gab da Dinge, die er und Viola früher getan hatten, die ich nicht toll fand. Aber das war lange her, und in den letzten Monaten war mir nichts mehr Negatives zu Ohren gekommen. Doch Felix war und blieb Violas Freund, ich wollte mir nicht mal ausmalen, wie es sein würde, wenn sie erfahren sollte, dass ich Felix mochte. Und zwar nicht nur als besten Freund meiner Schwester. Mein Hals wurde ganz trocken bei diesem Gedanken, und ich entschuldigte mich bei den beiden, um mir was zum Trinken zu holen.

 

Ich war dabei, mich in Felix Maler zu verlieben.

 

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