Teil 3

Es war alles völlig zerstört. Die wenigen Wände, die noch da waren, waren verkohlt, Böden und Mauern schwarzgefärbt. Das Haus war völlig unbewohnbar, und ein tiefer Schmerz nahm von mir Besitz.

 

Natürlich war mir auch bewusst, dass ich einen großen Teil schuld daran trug, dass das passiert war. Ohne meine Naivität hätte Gernot gar nicht die Chance gehabt, hier irgendetwas zu zerstören. Er hätte vielleicht gar nicht gewusst, dass wir das Haus besaßen. Ich war so ein leichtes Opfer gewesen und das war das Ergebnis davon.

In diese düstere Gedanken hinein wurde ich plötzlich umarmt.

"Liebes, wir gehen wieder. Ich wusste, dass das keine gute Idee ist", sagte Emmanuel. Ich unterdrückte ein Schluchzen, um meine nächsten Worte möglichst überzeugend sagen zu können.

"Nein, ich möchte noch bleiben. Ich möchte einen Schlussstrich ziehen, und da gehört eben das auch dazu"

"Bist du dir sicher?", fragte Emmanuel, und ich hörte ihm seine Besorgnis an.

"Ja, das bin ich. Ich werde jetzt dort hinein gehen und damit abschließen. Ich bin gleich wieder da", sagte ich und wollte schon losgehen, als Manu mich zurück hielt.

"Das ist zu gefährlich, dort drinnen könnte jederzeit eine Decke einstürzen. Ich möchte nicht, dass du dich in Gefahr begibst"

"Dort drinnen gibt es praktisch nichts mehr zum Einstürzen", gab ich zu bedenken und sah mir die Ruine nochmal an.

"Man weiß nie. Bitte Megara, das ist wirklich keine gute Idee".

"Aber ich muss das tun. Ich möchte an genau die Stelle gehen, zu der mich Gernot geschleift hatte. Ich möchte sehen, wie es dort aussieht, verstehst du?"

"Das sieht man auch von außen, dort ist nämlich alles verbrannt", sagte Emmanuel und hielt mich immer noch fest. Doch ich schüttelte den Kopf.

"Das wäre nicht das gleiche, und wir sind jetzt extra hierhergefahren. Es dauert auch nicht lange, ich bin gleich wieder da". Er seufzte auf.

"Also gut, aber ich gehe mit. Ich lasse dich jetzt nicht alleine dort hinein", sagte Manu bestimmt und damit war ich einverstanden.

Also betraten wir vorsichtig das Haus. Sofort schlug mir der Geruch nach verkohltem Holz entgegen, der immer noch scharf hier in der Luft hing.

 

Der Anblick dieser Reste brach mir wirklich das Herz, und es wurde mir nun richtig bewusst, dass es ein Wunder war, dass ich hier lebend rausgekommen war.

Ich durchquerte das Wohnzimmer, um dahin zu gehen, was einmal die Küche gewesen war, als es unter meinen Füßen bedrohlich knirschte.

Ich wollte erschrocken einen Schritt zur Seite machen, doch in Sekundenbruchteilen brach der Boden unter meinen Füßen weg und ich brach ein, während ich Manus panische Stimme hörte, die mich rief.

Ich landete überraschend weich auf dem Boden. Meine Füße steckten bis zum Knöchel in Schotter, außerdem spürte ich auch etwas Weiches. War das ein - Teppich? Eine Decke? Ich wusste es nicht, und hier unten war es ziemlich duster, so dass ich kaum etwas sehen konnte.

"Megara! MEGARA!", hörte ich die aufgeregte Stimme von Emmanuel. "Hörst du mich? Oh Gott, ich wusste, dass das keine gute Idee ist"

"Alles okay, mir ist nichts passiert", sagte ich und rieb mir meine schmerzende linke Hand, die ich mir beim Sturz leicht verletzt hatte. Naja, fast nichts passiert, aber es hätte schlimmer kommen können. Wahrscheinlich hatte ich mir die Hand beim Aufprall verstaucht.

"Mir fällt ein Stein vom Herzen!", sagte Emmanuel erleichtert. "Ich hole dich da raus, ich hole nur das Abschleppseil aus dem Auto, damit ziehen wir dich irgendwie nach oben, ja? Ich bin gleich wieder da!".

"Ja, alles klar", antwortete ich ihm und dann hörte ich, wie sich seine Schritte entfernten.

Während ich auf Manu wartete, hatte ich Zeit, mich hier unten etwas umzuschauen. Wo war ich nur gelandet? Es roch moderig, wie in einem alten Keller. Und in einer Ecke entdeckte ich im Dunkel eine alte Truhe. Eindeutig, wenn ich das richtig sah, war sie sogar verziert. Ohne Taschenlampe würde ich dort hinten aber nichts mehr sehen, deshalb musste die Öffnung der Truhe verschoben werden.

Emmanuel war schnell wieder da und gab mir sofort die nötigen Anweisungen.

"Binde das Seil gut um deine Hüften und mache einen Doppelknoten. Halte dich dann gut am Seil fest und versuche, möglichst nicht zu wackeln, sonst schwingst du mit dem Seil dort unten herum, und dann wird es noch schwerer für mich, dich nach oben zu ziehen. Ich werde dich dann ganz langsam hochziehen, ja?", sagte er. "Alles klar, Megara?"

"Ja, alles klar", antwortete ich.

"Ich werfe das Seil jetzt nach unten, gehe bitte kurz zur Seite", warnte er mich noch und ich machte, dass ich von der Gefahrenstelle weg kam.

"Achtung, Seil kommt!", rief Manu noch, dann hörte ich ein leises Rauschen, dann einen Plumps, als das Seil neben mir auf dem Boden landete.

 

Ich verknotete mich ordentlich und gab dann Emmanuel Bescheid, dass er mit dem Ziehen beginnen konnte. Ich hielt mich gut fest und versuchte, so ruhig wie es nur ging zu bleiben. Als ich mit den Fingerspitzen den Rand des Loches greifen konnte, half ich ihm, so gut es ging, mich nach oben zu befördern. Als es soweit war, krabbelte ich raus und stand dann auf, wo mich Emmanuel sofort begutachtete.

"Ist auch wirklich alles in Ordnung?", fragte er nochmal und sah mich forschend an.

"Ja, alles okay. Vielleicht ist meine Hand ein wenig verstaucht, aber das ist nicht schlimm", sagte ich zu ihm, dann nahm er mich in den Arm.

"Und jetzt machen wir, dass wir hier wegkommen. Ich möchte wirklich nicht, dass dir hier etwas passiert, jetzt hatten wir in diesem Haus schon zweimal Glück, welches ich wirklich nicht überstrapazieren möchte", sagte Manu bestimmt.

"Wir müssen aber nochmal wiederkommen", sagte ich trocken und wusste natürlich, dass ich ihn damit überraschen würde. Und wirklich, Emmanuel sah mich völlig ungläubig an.

"Wieso denn das?", wollte er dann wissen.

"Weil ich dort unten etwas gesehen habe. Eine Truhe. Ich möchte die mir genauer ansehen"

"Aber Megara, du siehst doch, wie gefährlich dieses Haus hier ist...", begann Emmanuel, doch ich unterbrach ihn.

"Wir nehmen dann natürlich die richtige Ausrüstung mit. Leiter, Seile, Taschenlampe, usw. Aber das ist wirklich wichtig, ich spüre das". Er sah mich und ich merkte, dass er regelrecht mit sich ringen musste.

"Oh man, Megara. Du begibst dich wohl gern in Gefahr, oder?", sagte er. Dann machten wir uns auf den Weg nach Hause.

Ich besprach zu Hause sofort alles auch mit meinen Eltern, die ganz ähnlich wie Manu reagierten. Doch ich redete so lange auf sie ein, bis auch sie kapitulierten. Ich würde also nochmal dort runter gehen und mir diese Truhe genauer anschauen. Ich war irre gespannt, was dort drinnen sein würde. Vielleicht war sie ja auch leer, wer wusste das schon? Aber ich musste es herausfinden.

Nur drei Tage später stand ich wieder dort unten. Diesmal war ich bequem mit einer Leiter hinuntergeklettert und hatte mich mit Hilfe des Lichtes der mitgebrachten Taschenlampe nun genauer umschauen können. Außer der Truhe gab es hier tatsächlich noch mehr Dinge. Stoffe, einen Wandteppich und einen Schrank, der ziemlich wertvoll aussah.

 

Doch dann öffnete ich aufgeregt die Truhe. Die Scharniere quitschten, als ich den Deckel hob, was von dieser jahrelangen, feuchten Luft herrührte, die hier unten herrschte.

Natürlich machte ich mich auf eine Enttäuschung gefasst, als ich den Deckel hob. Die Truhe konnte ja auch einfach leer sein.

 

Doch das war sie nicht.

 

Ich starrte völlig entgeistert auf die Dinge, die dort drinnen waren: Eine große Vase, Schmuck, Bücher, ein weißes Kleid, Fotografien - das alles zusammen war schon fast ein richtiger, kleiner Schatz!

 

Ich schloss die Truhe wieder und zog sie an die Öffnung, an der nun die Leiter stand, mit der ich hier nach unten geklettert war.

"Manu! Hörst du mich?", rief ich nach oben.

"Ich höre dich! Ist alles in Ordnung?", fragte er sofort.

"Ja, alles klar! Die Truhe ist randvoll mit Dingen, ich möchte sie mitnehmen. Ich binde sie hier unten an, dann komme ich hoch und helfe, sie nach oben zu ziehen. Wirfst du mir kurz das Seil runter?"

"Du willst eine Truhe nach oben ziehen?", fragte Manu nach.

"Ja, die Sachen darin sehen wertvoll aus. Hast du das Seil?"

"Einen Moment, kommt sofort. Du gehst bitte zur Seite, ja?", sagte er und ich ging drei Schritte weg. Das Seil kam, und ich band es so gut es ging um diese Truhe herum, dann kletterte ich nach oben. Gemeinsam mit Manu hievten wir die schwere Truhe dann hoch.

 

"Wow, die sieht ja toll aus!", sagte auch Manu bewundernd, als wir es geschafft hatten.

"Der Inhalt ist noch besser", sagte ich dann und ließ ihn in das Innere der Truhe schauen. Manu pfiff anerkennend durch die Zähne, als er seinen Blick über die kostbaren Dinge wandern ließ, die sich hier drin befanden. Jetzt, im Tageslicht, war es noch viel prachtvoller anzusehen. Wir trugen die Truhe zum Auto und verstauten sie vorsichtig, holten alle Werkzeuge und die Leiter, luden alles ein und machten uns dann auf den Rückweg nach Sunset Valley.

Zuhause dann sahen wir uns den Inhalt der Truhe genau an. Ein altes Hochzeitskleid, kostbar aussehende Stoffe, Bücher, Schmuck, mit den Rennpferden gewonnene Preise, Fotos, die große Vase, die ich schon in dem Keller gesehen hatte. Die Dinge hatten zum Teil einen tatsächlichen, kostbaren Wert, wie der alte Schmuck. Anderes war allein deshalb wertvoll, weil es Familienerbstücke waren.

Mein Vater entdeckte auf einigen der Schriftstücke und Bücher als erstes das Wappen.

"Ich glaube, ich spinne!", rief er aus, nahm ein ledergebundenes Buch zur Hand und besah sich die Buchvorderseite genauer.

"Was ist los, qin`àide?", fragte meine Mutter und trat an meinen Vater heran.

"Hier, schau mal! Wie es aussieht, hatte unsere Familie ein eigenes Familienwappen!"

Auch Manu und ich besahen uns das Wappen nun. Und es gab keinen Zweifel: Auf dem rot-blauen Wappen stand in altdeutscher Schrift eindeutig von Hohenstein. Ein Pferd zierte das Wappen, wohl das Zeichen der Pferdezüchter von damals. Vierblättrige Kleeblätter waren hier sicher als glücksbringendes Symbol wegen der Pferderennen zu sehen, die Ähren für die Landwirtschaft, die sie betrieben hatten.

"Unglaublich!", entfuhr es mir, und Emmanuel sah mich an.

"Das ist ja total spannend! Du weißt, wie sehr ich solche alten Dinge mag, und dann stellen wir hier und heute fest, dass ihr ein Familienwappen habt!"

 

In der Truhe war auch ein Briefbogen gelegen, von dem wir zuerst gedacht hatten, dass er unbeschrieben war, aber als ich ihn mir genauer besah, stellte ich fest, dass er beschrieben war. Unterschrieben mit Wilhelm Graf von Hohenstein.

"Daddy?", sagte ich aufgeregt.

"Ja?", sagte mein Vater.

"Wer war Wilhelm Graf von Hohenstein?", wollte ich wissen.

"Das war mein Urgroßvater, also dein Ururgroßvater. Warum fragst du?"

"Ich halte hier einen Brief von ihm in den Händen!", sagte ich und fasste es nicht. Ein Brief meines Ururgroßvaters! Ich las ihn vor:

Ich ließ das Papier sinken und sah meine Eltern und Emmanuel an. Endlich wussten wir, warum Wilhelm das damals getan hatte, wir hatten uns schon öfter darüber unterhalten. Wir wussten ja dank Ernas Tagebuch, dass er verhaftet worden war, weil er der SS angehörte. Es war also der einfachste Grund der Welt gewesen: Er wollte seine Familie schützen.

 

"Es ist... ganz seltsam für mich, das alles nun zu wissen", gestand mein Vater und ich wusste genau, was er meinte. Es war das eine, die ganze Zeit im Nebel zu tappen und die wildesten Theorien zu entwickeln, aber das andere, dann die Wahrheit zu erfahren. Wir fühlten uns diesem unbekannten Vorfahr nun irgendwie verbundener.

Nachdem wir die Dinge nochmal genau unter die Lupe genommen hatten, vertagten wir es, darüber zu entscheiden, was nun weiter passieren sollte, denn um klare Entscheidungen treffen zu können brummte uns viel zu sehr der Kopf wegen der vielen neuen Informationen und Begebenheiten.

 

Also räumten wir die Truhe vorerst wieder ein und stellten sie in das Schlafzimmer meiner Eltern.

 

Und irgendwie machte es mich glücklich, dass der Wunsch meines Ururgroßvaters in Erfüllung gegangen war: Eine von Hohenstein hatte den Brief in den Händen gehalten, als sie ihn vorgelesen hatte.

An einem Samstagnachmittag nur drei Wochen später, nachdem wir die Truhe gefunden hatten, entführte mich Emmanuel an einen Wasserfall ganz in der Nähe von Sim City. Er wusste ja, wie sehr ich mit der Natur verbunden war und hatte mich zu diesem Ausflug eingeladen, nachdem wir in den letzten Tagen viel Stress in der Firma gehabt hatten. Sophie hatte auch noch zwei Tage wegen Krankheit gefehlt, und jetzt sehnten wir uns nach Entspannung.

 

Die Wassermassen, die hier von den Felsen in die Tiefe stürzten, waren beeindruckend.

Wir setzten uns in das Gras, und versanken wieder einmal ganz in unseren Gesprächen. 

Wir saßen so lange, bis die Sonne unterging. Als wir uns erhoben, sah ich einen Grasflecken auf Manu`s heller Jeans.

"Du hast da einen Flecken", sagte ich und Emmanuel versuchte, nach hinten zu sehen.

"Wo?", fragte er, und ich zeigte es ihm. Dabei berührte ich ihn an seinem Po, was mich sofort total elektrisierte.

"Ähm...", stammelte ich und räusperte mich. Natürlich hatten wir uns in den letzten Monaten schon öfters mal berührt, auch wenn es nie bis zum Äußersten gekommen war. Doch jetzt war irgendetwas - anders. Manu sah mich an. Sein Gesicht war unergründlich in diesem Moment und ich fragte mich, ob er wohl das gleiche dachte. Wir standen sekundenlang so da, sahen uns an, und keiner sagte was. Irgendwann durchbrach Manu die Stille.

"Der Fleck sollte schleunigst behandelt werden, dazu muss ich die Hose aber wohl oder übel ausziehen", meinte er, und seine Stimme war viel dunkler als sonst. Mein Herz begann fürchterlich zu klopfen, denn ich wusste, worauf er hinaus wollte.

"So ganz ohne Hose - wird es dich da nicht frieren?", fragte ich und spielte sein Spiel mit. Es war so aufregend, und die Situation hatte sich urplötzlich total geändert.

"Das ist natürlich ein Problem", sagte er dann. "Aber es gibt da Mittel und Wege, damit es einem warm werden kann".

Oh. Mein. Gott!

"Okay, und was für Wege wären das? Ich weiß das einfach nicht mehr, ist alles viel zu lange her bei mir", sagte ich. Emmanuel lächelte.

"Bei mir doch auch, aber anscheinend habe ich das bessere Gedächtnis als du".

"Dann zeig` es mir", sagte ich. Es war mein ernst, ich war mir plötzlich total sicher. Ich wollte ihn, und zwar richtig. Manu riss mich in seine Arme und küsste mich leidenschaftlich, und ich bemerkte, dass er schneller atmete.

"Lass uns von hier verschwinden", sagte er nach dem Kuss, schnappte meine Hand und zog mich zum Auto.

 

Während der Fahrt zu seinem Haus sprachen wir nicht viel, zuviel ging mir im Kopf herum. Hatte ich schöne Wäsche an? Roch ich gut? Ich war wirklich total aufgeregt.

 

So schnell, wie wir diesmal in seinem Schlafzimmer waren, waren wir noch nie gewesen.

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In den letzten Stunden hatte ich erfahren, warum alle Welt von der körperlichen Liebe schwärmte. Bisher hatte ich das wenig bis gar nicht nachvollziehen können, aber jetzt war es sonnenklar. Emmanuels Körper zu entdecken und den eigenen von ihm entdecken zu lassen war so unbeschreiblich schön gewesen. Mal war er dabei ganz zärtlich, dann wieder atemberaubend gewesen und ich hatte Seiten an mir entdeckt, die ich bis dahin gar nicht an mir kannte.

 

Wegen der Verhütung hatten wir uns ebenfalls keine Sorgen machen müssen, denn nach Svens Geburt und dem missglückten Stillversuch hatte ich mir die Pille verschreiben lassen. Auch wenn ich keinen Freund gehabt hatte, so wollte ich nicht mehr in diese Situation wie die mit Erich kommen. Emmanuel wusste das.

 

Ich wusste nicht, wie spät es war, als wir dann erschöpft einschliefen, denn ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Am nächsten morgen verabschiedete ich mich früh von Emmanuel, denn der Sonntag sollte wieder meiner Familie gehören. Natürlich fiel mir der Abschied von ihm nicht gerade leicht, aber ich hatte meinen Eltern versprochen, da zu sein. Also fuhr ich noch in der Dunkelheit los und kam dann bei uns an, als der Morgen dämmerte.

 

Und obwohl es noch so früh war, war mein Vater bereits in seinem Garten und arbeitete. Dieses Bild war mir so vertraut, dass ich zumindest mit einem Fuß wieder in die Realität fand, auch wenn sich die letzte Nacht als unvergessliches Erlebnis in mein Gehirn gebrannt hatte.

 

Ich grüßte meinen Vater, der sich freute, dass ich schon wieder da war. Und ich hatte das Gefühl, dass man mir ansehen konnte, was Manu und ich getan hatten. Bemerkte Vater etwas? Ich forschte in seinem Gesicht, doch er erzählte von dem gestrigen Tag, den Dingen, die Sven gemacht hatte und davon, dass dieser die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Alles völlig normal also.

Mein Vater zeigte mir auch sein neuestes Werk, dass fast vollendet war. Die Malerei war immer noch etwas, was uns beide verband und Daddy äußerte den Wunsch, dass er doch mal wieder mit mir gemeinsam malen wollte.

 

Ich wollte das auch, das war keine Frage, doch leider musste ich ihn noch vertrösten.

 

Gerade in der nächsten Zeit standen einige Termine in der Firma an, zu denen ich gehen musste. Vorstandssitzungen standen auf dem Plan, die Jahresabschlüsse mussten gemacht und abgesegnet werden, die neuen Produkte würden nun im neuen Jahr auf den Markt kommen, so dass wir auch hier im Endspurt standen und wie es oft so war, noch nichts so klappte, wie wir das wollten.

 

Hinzu kam, dass ich Mutter war und meinem Sohn eine schöne Kindheit ermöglichen wollte. Zudem lebte ich in einer Fernbeziehung, was ebenfalls nicht immer leicht war. Gerade wie an so einem Morgen wie jetzt. Wie gern wäre ich noch bei ihm geblieben, wie schön wäre es gewesen, den Tag gemeinsam gestalten zu können. Stattdessen hatte ich mich noch in der Nacht von ihm verabschieden müssen. Und dann durfte man auch meine Freunde nicht vergessen, die ich auch immer weniger sah. Ich wusste nicht einmal, ob Sam nun eine neue Freundin hatte oder nicht. Von meiner Schriftstellerei ganz zu schweigen.

 

Ich boxte mich an manchen Tagen mehr schlecht als recht durch, doch irgendwie war es immer weitergegangen. Aber ich musste lernen, zu manchen Dingen eben doch "nein" sagen zu können. Sowohl meine Romane als auch die Malerei waren Dinge, die gerade pausierten, anders schaffte ich es nicht, sonst würde ich mir wie zerrissen vorkommen. Auch wenn mir beides sehr fehlte. Nach wie vor galt der Schriftstellerei mein Herzblut und beim Malen konnte ich immer so wunderbar abschalten.

Nachdem der ganze Stress am Jahresanfang dann endlich weg war, flogen Manu und ich nach Ägypten. Ich hatte ihm die Reise zu Weihnachten geschenkt, die er wegen mir storniert hatte. Allerdings gingen wir nicht so lange, wie es ursprünglich von Emmanauel geplant gewesen war, da ich Sven diese Strapaze einer langen Flugreise nicht zumuten, ihn aber auch nicht zwei Wochen ohne seine Mutter lassen wollte. So gingen wir lediglich sechs Tage nach Ägypten, was für ein Kleinkind ohne Mutter schon lange genug war. Emmanuel hatte das sofort und ohne zu murren akzeptiert, wofür ich ihm wirklich dankbar war. Und ich war froh, dass Sven mit meinen Eltern und Sam bekannte Personen um sich hatte, die sich gut um ihn kümmerten, so dass ich relativ beruhigt fliegen konnte.

 

Schon der Anflug auf Ägypten war atemberaubend.

Wir hatten uns für ein Camp als Unterkunft entschieden, um möglichst nah am Geschehen zu sein. Ich war sehr froh, dass es diese Möglichkeit gab, denn mir ein einfaches Zelt viel lieber als ein pompöses Hotel. Und Emmanuel reiste oft so, damit er auch mal mehrere Touren nur mit dem Zelt auf den Rücken machen und die Urlaubsregion richtig, ohne den Massentourismus, erkunden konnte.

Den Proviant für unsere Ausflüge kauften wir in der nächsten Stadt auf dem Markt, und Emmanuel verhandelte geschickt mit den Verkäufern.

Noch am gleich Tag besichtigten wir eine Pyramide, die nicht weit entfernt war. Sie war zwar klein, aber mit tollen und gut erhaltenen Inschriften versehen.

"Das hier müsste aus der 4. Dynastie stammen. Damals haben die Ägypter bereits große Pyramiden in dieser Form gebaut, keine flachen Mastabas mehr. Die Pyramiden von Gizeh stammen ebenfalls aus dieser Zeit", erklärte mir Emmanuel und ich starrte ihn verblüfft an.

"Woher weißt du denn soetwas?", fragte ich ihn. "Kannst du etwa die Hyroglyphen lesen?"

"Nur ein wenig", bekannte Emmanuel, "Ich würde das gerne richtig können, aber ich habe nicht genug Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich habe nämlich einen irrsinnig stressigen Job mit einer sehr strengen Chefin, musst du wissen". Ich grinste.

"Ach ja? Dann solltest du dich mal mit deiner Chefin über mehr Freizeit unterhalten"

"Das werde ich auch! Bei nächster Gelegenheit gleich!", sagte Emmanuel und zwinkerte mich an.

Die ersten zwei Vorräume der kleinen Pyramide konnte man sogar besichtigen, und ich erschrak fürchterlich, als plötzlich eine Feuerfalle losging, die aufloderte, als wir den zweiten Raum betraten. Sofort kamen mir die Bilder des brennenden Grafenanwesens in den Sinn und ich begann zu zittern. Emmanuel führte mich ins Freie und tröstete mich, so gut er konnte. Außerdem rief ich mir ins Gedächtnis, was meine Therapeutin mir in unseren Gesprächen vermittelt hatte. So langsam öffnete sich der Eisenring, der sich um meinen Magen gespannt hatte, wieder.

"Und ich dachte, ich hätte diese Sache bereits besser verarbeitet", sagte ich kleinlaut, als es mir besser ging.

"So etwas braucht Zeit, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Geht es wieder?"

"Ja, danke", antwortete ich. 

 

Wir gingen dann weiter und Emmanuel begann, mir von Ägypten und der Kultur zu erzählen. Er wusste einiges, da er schon dreimal hier war. So lenkte er mich wunderbar von dem Schrecken ab und ich entspannte mich wieder.

Abends gingen wir dann in einem kleinen Ort essen. Emmanuel hatte zwar ein paar getrocknete Lebensmittel gekauft, diese sollten uns aber als Proviant dienen, wenn wir Ausflüge machten. Außerdem brauchte ich auch einmal am Tag etwas Warmes.

Der erste Urlaubstag neigte sich schon bald dem Ende entgegen, und ich war gelöst wie lange nicht mehr. Den Schrecken in der Grabkammer hatte ich recht schnell wieder vergessen. Einen ganzen Tag mit Emmanuel ohne jegliche Verpflichtung verbringen zu dürfen war großartig gewesen.

 

In den nächsten Tagen erkundeten wir Ägypten weiter. Wir gingen an Orte, an denen wir beide noch nicht waren, oder auch an besonders beeindruckende Grabbauten, die Emmanuel schon kannte und mir zeigen wollte, wie z. B. Abu Simbel.

An unserem zweitletzten Urlaubstag standen wir sehr früh auf, um den Sonnenaufgang zu sehen. Obwohl ich noch müde war, hatte sich dieses frühe Aufstehen aber gelohnt. Der Anblick der aufgehenden Sonne über der ägyptischen Wüste war atemberaubend.

An unserem letzten Abend schlugen wir unser Zelt an einem Platz auf, der in der Wüste an einer kleinen Oase lag und nur einen Grillplatz hatte. Wir hatten noch von dem gekauften Proviant übrig und grillten diese Reste, damit wir sie nicht wegwerfen mussten.

 

Ich konnte sogar ganz entspannt in das Feuer in der Feuerstelle schauen, was ein riesiger Fortschritt war. Aber so eine gesicherte Grillstelle war eben auch etwas anderes als ein offenes Feuer in einem Gebäude.

Die Sterne über uns funkelten wunderschön, schöner als bei uns zu Hause.

 

Der letzte Abend.

 

Ich konnte nicht umhin und fiel in eine leichte Melancholie. Sie waren so schön gewesen, diese Tage mit Emmanuel. Und schon waren sie vorbei.

Natürlich bemerkte er, in was für einer Stimmung ich war.

"Meg, Liebling. Sei nicht traurig. Mir haben diese Tage mit dir hier auch unwahrscheinlich gefallen, aber wir sehen uns ja danach oft. Schon allein die Tage in der Firma darfst du nicht vergessen. Ich werde eben ganz viele Fragen haben und dich oft in deinem Büro besuchen müssen". Die Firma, was war die in diesem Moment weit weg.

"Musst du jetzt von der Firma anfangen?", fragte ich deshalb.

"Sorry, ich wollte dich nur aufmuntern", sagte er.

"Ja, ich weiß", sagte ich entschuldigend. "Es ist nur so verdammt schön hier"

"Ich hoffe, dass du damit nicht nur Ägypten meinst", sagte Manu und sah mich forschend an.

"Dummerchen", sagte ich "Natürlich nicht. Das weißt du doch"

"Weiß ich das?", neckte er mich und ich sah ihn tadelnd an. Meine Stimmung wurde schon wieder merklich besser.

"Vielleicht könnte dich ein Kuss überzeugen", schlug ich vor und er dachte über diesen Vorschlag angestrengt nach.

"Hm, ich weiß nicht recht", sagte er dann, und ich musste kapitulieren.

Ich küsste ihn dann einfach, und wir genossen diesen Kuss am letzten Abend in Ägypten beide.

Schon bald zogen wir uns dann in unser Zelt zurück. In dem vollen Bewusstsein, diesmal ohne Verhütung miteinander zu schlafen.

 

Es war an einem Adventssonntag gewesen, als wir auf das Thema Kinder gekommen waren. Er hatte mich gefragt, ob ich mir weitere Kinder vorstellen könnte oder ob Sven ein Einzelkind bleiben sollte. Da ich selbst ein Einzelkind war und ohne Samuel zeitweise verloren gewesen wäre, wollte ich eigentlich gerne ein Geschwisterchen für meinen Sohn. Ich werde wohl sein Gesicht nie vergessen, als er daraufhin fragte, ob ich mir ihn als Vater für mögliche weitere Kinder vorstellen könnte. Was für eine Frage! Und so waren wir überein gekommen, dass ich keine neue Pillenpackung mehr beginnen würde, wenn die alte verbraucht war. Alles andere würden wir auf uns zukommen lassen und die Zeit bis dahin gut zum Üben benutzen.

Nun, üben musste Emmanuel nun wirklich nicht mehr, denn besser konnte er dadurch auch nicht werden.

Nach diesem traumhaften Urlaub hatte ich richtige Mühe, wieder in den Alltag zu finden. 

 

Doch soviel Glück gab es nicht im Dauerangebot, und ein Anruf meiner Großmutter erinnerte mich wieder daran. Sie sprach mit meinem Vater, als wir alle zusammen im Wohnzimmer saßen. Seine Miene war immer ernster geworden, seine Worte karger. Irgendetwas stimmte nicht, und ich vermutete zuerst, dass etwas mit meiner Oma war, denn sie ging schon seit Wochen regelmäßig zu einem Arzt. Leider wussten wir nichtmal genau, warum, denn das ließ sie nicht heraus.

 

Doch es ging gar nicht um Oma.

Mein Vater, meine Mutter, ich und auch Manu fuhren gleich am nächsten Wochenende in das Haus meiner Großeltern in Sim City.

 

Dort erklärte meine Oma uns, dass sich der Gesundheitszustand meines Opas rapide verschlechtert hatte. Auf die Frage, was ihm fehle, antwortete sie nur, dass sein Herz nicht mehr wollte.

"Er möchte euch nochmal sehen", sagte sie und ein kalter Schauer jagte über meinen Rücken. Es hörte sich so - entgültig an.

"Wo ist er?", fragte mein Vater und seine Stimme hörte sich seltsam tonlos an, so dass es mir schwerfiel, seine Gefühle in diesem Moment zu erraten.

"Im Schlafzimmer", antwortete meine Oma. Mein Vater und ich gingen dann zu ihm, und mir schossen die unterschiedlichsten Dinge durch den Kopf. Allen voran: Wie würde mein Großvater aussehen? Ich hatte ihn nun schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.

"Komm`, Emmanuel, wir gehen ins Wohnzimmer", sagte meine Mutter zu Manu.

Mein Großvater sah müde aus, als wir das Zimmer betraten.

"Schön, dass ihr kommen konntet", sagte er mit alter, trockener Stimme. Sie fuhr mir durch Mark und Bein. "Jetzt schaut doch nicht so betreten! Kommt` erstmal näher, ihr zwei"

Also traten wir näher an das Bett meiner Großeltern und warteten, was er uns zu sagen hatte. Ich selbst brachte kein Wort über die Lippen. Ich wusste, wenn ich meinen Mund jetzt aufmachen würde, müsste ich heulen.

 

"Also zuerst möchte ich, dass ihr mir versprecht, kein großes Tamtam zu machen, wenn ich nicht mehr da bin", begann Opa und mich fröstelte schon wieder, wie normal er über seinen bevorstehenden Tod sprach. Woher nahm er diese Ruhe? "Ich hatte ein sehr langes Leben, durfte noch die Geburt eines Urenkels miterleben, habe viel erreicht im Leben. Und viel gewonnen. Es ist jetzt wahrhaftig an der Zeit zu gehen". Ich hörte, wie meine Oma leise aufschluchzte und hätte sie am Liebsten hinausgeschickt. Warum tat sie sich das an?

"Sag`doch sowas nicht, Vater", sagte mein Vater, und mein Opa lächelte.

"Warum sollte ich den Tatsachen nicht ins Auge blicken? Ich war immer direkt, und du weißt das". Mein Vater sah ihn an, sagte jedoch nichts mehr dazu.

"Nun, ich möchte nicht diskutieren. Es gibt nur noch ein paar Wünsche, die ich an euch hätte", sagte Opa müde.

Er schloss erschöpft die Augen und mein Vater fragte meine Oma, ob wir ihn nicht besser eine Weile alleine lassen sollten. Dem widersprach dann allerdings mein Opa selbst.

"Gabriel, zuerst zu dir", sagte er dann und sah meinen Vater an. "Wir beide waren uns wahrhaftig nicht immer einer Meinung. Du bist mein einziges Kind, mein einziger Sohn, und ich weiß, dass ich dir vor allem als Kind nicht immer der beste Vater war".

"Das ist doch alles Schnee von gestern", unterbrach ihn mein Vater.

"Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich stolz auf das bin, was du erreicht hast. Ich hätte dich viel eher unterstützen sollen, anstatt dir auch noch Steine in den Weg zu legen. Ich hoffe, du kannst mir das verzeihen"

"Das habe ich doch schon längst", sagte mein Vater und sah betreten auf die Seite. Ich merkte ihm an, dass auch ihm dieses Gespräch schwer fiel. Es war das eine, sich mit seinem Vater nicht so gut zu vertragen, aber das andere, an dessen Todenbett zu stehen.

"Gut", lächelte mein Opa zufrieden, dann wandte er sich an mich. "Megara, meine liebe Enkeltochter", begann er und ich hörte ihm angespannt zu.

"Du hast mich immer mit Freude erfüllt. Du kümmerst dich um unsere Firma, du hast die Grafschaft. Alles ist wieder so, wie es sein muss. Versprich mir zum einen, dass du dafür sorgst, dass die Grafschaft nie wieder in fremde Hände fällt, ja?". Nun sagte ich zum ersten mal etwas, seit ich in diesem Zimmer war.

"Ja, ich verspreche es", drückte ich zittrig raus.

"Und dann dein Freund, Emmanuel", fuhr er fort. "Wir haben ihn als Geschäftsführer eingestellt, weil wir wussten, dass er gut ist. Halte ihn gut fest, Megara. Etwas Besseres als er hätte dir gar nicht passieren können".

"Ja, ich weiß", sagte ich und konnte meine Tränen kaum mehr unterdrücken.

"Wo ist eigentlich meine Schwiegertochter?", fragte mein Opa plötzlich wie aus heiterem Himmel. Wir waren kurz so baff, dass keiner von uns einen Ton sagte.

"Sie wartet mit Emmanuel im Wohnzimmer", antwortete dann mein Vater.

"Ich möchte sie auch noch einmal sehen. Beide.", sagte mein Opa, woraufhin ich mich anbot, die beiden zu holen.

 

So nahm mein Großvater auch noch von meiner Mutter und Emmanuel Abschied.

Als wir wieder im Wohnzimmer waren, war ich fix und fertig. Und dann flossen auch die Tränen.

 

Ich ahnte, dass ich meinen Opa nie wieder lebend sehen würde, und dieser Gedanke war sehr schmerzvoll. Er hatte sich von uns verabschiedet, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Ja, der Tod gehörte zum Leben, aber das hier überstieg meine Kräfte wirklich.

 

Emmanuel tröstete mich, so gut er konnte, doch ich war untröstlich.

Mein Großvater starb nur drei Tage später. Meine Großmutter hatte ihn morgens im Bad auf dem Boden gefunden.

 

Die Beerdigung fand auf dem Zentralfriedhof in Sim City statt. Der Tag war noch jung und die letzten Nebelfelder lagen über dem Friedhof, als nur wir nächsten Verwandten an seinem Grab standen und den Worten lauschten, die Bischof Kessler sagte. Ich bekam nicht alles von dem mit, was der Geistliche sagte, dazu schweiften meine Gedanken immer wieder ab. Ich dachte an Erlebnisse mit meinem Opa, an die Gespräche, auch an das letzte.

 

Und nun sollte er in dieser Holzkiste liegen und tief in die dunkle, feuchte Erde hinabgelassen werden? Unvorstellbar.

Wir alle trauerten auf die unterschiedlichste Weise. Meine Oma schluchzte offen und ließ sich auch nicht trösten. Dazu stammelte sie in ihrem tiefen Schmerz immer wieder solche Worte wie: "Oh Uwe, lass mich nicht allein!", "Warum gehst du noch vor mir?", "Was soll ich jetzt nur machen?". Mein Vater war die ganze Zeit sehr still und hing seinen Gedanken nach, meine Mutter hatte eine verschlossene Miene und ich weinte still vor mich hin. Ich hatte mir eine Sonnenbrille aufgesetzt, um meine roten Augen zu verbergen, was natürlich an einer Beerdigung Blödsinn war, aber ich fühlte mich so besser. Emmanuel stand die ganze Zeit bei mir und war so einfach für mich da.

Als der Sarg dann hinabgelassen wurde, weinte meine Oma hemmungslos.

Sie tat mir sehr leid, denn für sie musste dieser Moment am Schwersten von uns allen sein. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie es war, seinen Mann nach fast 60 Jahren Ehe zu verlieren. Zu meiner Trauer kam nun auch noch körperliches Unwohlsein. Mir schlug das alles so sehr auf den Magen, dass ich das Gefühl bekam, mich übergeben zu müssen. Auch mein Kreislauf war wohl aus dem Tritt gekommen, denn mir schwindelte, so dass ich schon Angst bekam, umzukippen.

 

Ich nahm schnell Emmanuels Hand und hielt mich an ihm fest.

Mein Vater war währenddessen zu meiner Oma gegangen und tröstete sie, obwohl auch in seinem Gesicht viel Schmerz geschrieben stand.

Manu nahm mich wortlos in den Arm und streichelte mir beruhigend über den Rücken.

 

Niedergeschlagen gingen wir in das Haus meiner Großeltern, das nun alleine von meiner Oma bewohnt wurde. Dort aßen wir Hefezopf und tranken Kaffee, es war eine kleine Trauerfeier ohne viel Tamtam, genauso, wie es sich mein Opa gewünscht hatte.

 

Natürlich machten wir uns Sorgen um Oma. Sie lebte nun allein und war ebenfalls nicht mehr gesund, doch sie versicherte, gut klarzukommen, da sie einmal am Tag von einem ambulanten Pflegedienst besucht wurde und sie auch eine nette Haushälterin eingestellt hatte, die sie nun im Haushalt entlastete. Trotzdem nahm ich mir vor, sie regelmäßig zu besuchen, wenn ich hier war, und auch meine Eltern wollten nun öfters hierherfahren.

 

Wir hatten einen guten Rhythmus gefunden, so dass meine Oma nicht oft alleine war.

 

Doch nur vier Wochen nach der Beerdigung meines Großvaters folgte ihm meine Großmutter.

 

Sie erlag ihrer Krebserkrankung, wie wir vom Arzt erfuhren. Sie war sechs Tage vor ihrem Tod in die Klinik gebracht worden, wo sie dann auch starb. Nie hatte sie über die Krankheit gesprochen, und mein Vater hatte gesagt, dass sie schon früher nie geklagt hatte wenn sie krank geworden war. Sie wollte sich diese Schwäche nicht zugestehen. Der Arzt war sich sicher, dass die Krankheit durch den Tod meines Opas beschleunigt worden war und sie nun deshalb relativ schnell gestorben war.

Die letzten Wochen waren nicht einfach gewesen. Nicht nur, dass zum ersten Mal in meinem Leben Menschen gestorben waren, die mir nahe standen, es musste nun auch unglaublich viel organisiert werden, wofür wir eigentlich alle keinen Kopf hatten. Gut, dass meine Eltern da das meiste übernahmen.

 

Emmanuel hatte mir vorgeschlagen, eine Weile Urlaub zu machen, er und Sophie würden sich um die Firma kümmern. Aber da mir die Ablenkung mehr als gut tat, wollte ich das gar nicht.

 

Sven bemerkte die Veränderungen bei uns natürlich auch und schlief nachts nun wieder nicht mehr durch, was er vor dem Tod meiner Großeltern bereits seit einigen Wochen geschafft hatte. Sein Schmusebedürfniss war aber so groß, dass ich ihn sogar ab und an mit in mein Bett nahm, wenn er es nicht schaffte, wieder einzuschlafen. Und ich war viel zu kaputt, um mir halbe Nächte um die Ohren zu schlagen.

 

Denn auch mir ging es körperlich immer noch nicht gut. Als ich mir dann tatsächlich eines Morgens das Abendessen vom Vortag nochmal durch den Kopf gehen ließ, kam mir zum ersten mal ein süßer Verdacht.

Ich ging dann erstmal alleine zur Frauenärztin, falls es doch falscher Alarm war.

 

Doch zu meiner riesigen Freude bestätigte sie meinen Verdacht: Ich war schwanger!

 

Aber nicht nur das. Auf dem Ultraschallmonitor hatte man ganz genau gesehen, dass zwei kleine Herzen in meinem Bauch schlugen. Zwei! Ich erwartete Zwillinge!!!

Ich war bereits in der 10. Schwangerschaftswoche, aber durch die ganze Aufregung der letzten Wochen hatte ich gar nicht bemerkt, wie lange meine Tage schon überfällig waren und hatte die Übelkeit den ganzen Umständen zugeordnet.

 

Natürlich hatte ich mir ausgemalt, wie ich Emmanuel die freudige Nachricht überbringen würde. Ich könnte einen Strampler kaufen, diesen nett einpacken und diesen ihm dann schenken. Ich könnte aber auch eine Kleinigkeit zeichnen und dann darunter schreiben: "Dem werdenden Papa". Ginge alles. Wenn ich es ausgehalten hätte, ihm bis dahin nichts zu verraten, was beim Blick in sein Gesicht völlig unmöglich gewesen war.

 

Emmanuel fuhr nach der Arbeit an diesem Tag zu mir, wie so oft in letzter Zeit. Er war wunderbar, machte er sich diesen Stress doch nur, weil er es mir so ermöglichen wollte, möglichst oft bei Sven zu sein.

 

Als wir dann oben im Flur standen, konnte ich ihm die Neuigkeit keine Sekunde länger vorenthalten.

"Emmanuel", begann ich und nahm ihn in den Arm. "Es ist etwas Wunderbares passiert". Ich stockte und wollte den Spannungsbogen so richtig ausdehnen. Er sollte nun fragen, was denn so Tolles passiert war und mich mit großen Augen anschauen. Doch er tat nichts dergleichen. Stattdessen fing er an zu lächeln und sagte:

"Du bist schwanger!". Nun war ich es, die ihn verblüfft anstarrte.

"Woher weißt du das?", fragte ich.

"Du würdest das nicht fragen, wenn du dein Gesicht sehen könntest", sagte er grinsend. Doch dann sah er mich sehr verliebt an und fragte:

"Ist doch so, oder? Du bekommst ein Kind, habe ich recht?". Forschend sah er mich an und wartete gespannt auf meine Antwort. Und da hatte ich nun doch noch einen Joker im Ärmel. Ich setzte also einen möglichst unbeteiligten Gesichtsausdruck auf und meinte:

"Nein, da irrst du dich". Sein Gesicht verfinsterte sich sofort, und augenblicklich tat er mir leid. Deshalb wollte ich ihn nun nicht länger auf die Folter spannen und sagte:

"Es sind zwei". Ich beobachtete seine Reaktion genau, sah, wie er mich zuerst ungläubig, dann verblüfft anstarrte. Wie sich sein Gesicht wieder erhellte, so dass auch ich nun lächelte.

"Ist das wahr?", fragte er leise, und ich nickte. Ich spürte, wie sich in meinem Hals ein dicker Kloß bildete und sagte deshalb lieber nichts.

"Zwillinge, Meg?", vergewisserte er sich noch einmal. Wieder nickte ich, und dann küssten wir uns sehr zart.

Emmanuel nahm dann sofort Kontakt zu seinen ungeborenen Kindern auf, was mich schmunzeln ließ.

"Und, was sagen sie? Ist ihre Wohnung kuschelig?", fragte ich und unterdrückte mein Lachen.

"Ja, alles in Ordnung", sagte Emmanuel trocken und grinste. "Sie hätten gerne morgen zum Mittagessen Schnitzel mit Vanilleeis". Ich prustete laut los.

"Große Güte, den Wunsch kann ich ihnen wahrhaftig nicht erfüllen", sagte ich lachend, "Sonst muss ich mich nur wieder übergeben". 

"Wieso? Ich dachte, schwangere Frauen essen alles mögliche durcheinander", sagte Manu und sah mich an.

"Also ich nicht. Ich habe auch bei Sven fast normal gegessen. Wenn ich denn Appetit hatte, was in den ersten Wochen eher weniger der Fall war. Und nachdem ich heute morgen schon nähere Bekanntschaft mit der Toilettenschüssel gemacht habe, stehen uns ein paar harte Wochen ins Haus".

Die Morgenübelkeit traf mich dann tatsächlich total, hinzu kam, dass ich oft sehr müde war. Meine Familie unterstützte mich, wo sie konnte, und auch Sam war für mich da.

 

Die Nachricht über den bevorstehenden Nachwuchs hatte Freude in meiner Familie ausgelöst, was mir natürlich noch mehr half. So gesehen lief diese Schwangerschaft wirklich komplett anders ab als meine erste.

 

Sven akzeptierte Emmanuel inzwischen auch schon ganz gut, es gab zwar noch ein paar wenige Situationen, wo er nicht wollte, dass Manu bei ihm war, etwa, wenn man ihn nach einem Sturz trösten musste, aber sonst entspannte sich auch hier so einiges. Ich fragte mich natürlich auch, ob sich Manu noch soviel Mühe mit Sven machen würde, wenn erst unsere Kinder auf der Welt waren. Seine leiblichen Kinder, und Sven das nichtmal offizielle Stiefkind - würde Sven den Unterschied zu spüren bekommen? Ich war mir zwar sicher, dass Manu das sicher nicht absichtlich machen würde, aber wer wusste denn schon, was da dann unbewusst laufen würde? Ich hatte mir vorgenommen, darauf acht zu geben, wenn es erstmal soweit war.

Ich war bereits im 4. Monat schwanger, die Übelkeitsphase schien sich zu verabschieden und mir ging es wieder besser, auch was die Müdigkeit anbelangte, da bat mich mein Vater zu einem Gespräch.

 

Wir setzten uns auf die alte Couch im Flur, wo auch mal wieder frisch tapeziert werden könnte, wie ich feststellte. Doch mein Vater wollte mit mir nicht gerade über irgendwelche Renovierungsarbeiten reden.

"Megara... ähm, dir geht es ganz gut, oder?", fragte er mich stockend, was mich wunderte. Und mir auch zeigte, dass der Satz nur sowas wie ein Einleitungssatz gewesen war, er wusste schließlich, wie es mir ging. Er fragte fast täglich danach.

"Ja, danke. Das Schlimmste habe ich hoffentlich schon geschafft", antwortete ich trotzdem.

"Das ist schön", sagte er und lächelte. "Weißt du, es ist für uns natürlich auch schön zu wissen, wer der Vater unserer Enkel ist. Bei Sven hast du es ja nie gesagt". Hm, kamen wir hier dem Thema schon eher auf die Spur? Und nein, ich hatte ihnen nie gesagt, dass Sven von Erich ist. Vielleicht, weil ich mich geschämt habe? Weil ich auf ihn hereingefallen bin, nachdem mich jeder vor ihm gewarnt hatte?

"Der Vater von Sven spielt in meinem Leben keine Rolle mehr", sagte ich deshalb nur und hoffte, das Thema damit wechseln zu können. Er machte eine kurze Gesprächspause, dann sagte er:

"Deine Mutter und ich haben uns in der letzten Zeit so einige Gedanken gemacht deshalb". Aha.

"Worüber habt ihr euch Gedanken gemacht?", fragte ich dann und stellte mich dumm, denn ich konnte mir natürlich die Antwort denken.

"Über den Vater von Sven..."

"Darüber braucht ihr euch aber keine Gedanken machen! Das Thema ist erledigt", begehrte ich auf. Ich wollte jetzt nicht über Erich reden!

"Megara, rege dich bitte nicht auf! Schon gar nicht in deinem Zustand! Es ist nur so, dass man es Sven ansieht, wer sein Vater ist. Je älter er wird, desto mehr kommen die Gesichtszüge von Erich zum Vorschein". Er hatte es gesagt. Und natürlich hatte er auch recht, leugnen war völlig zwecklos. Svens Nase und der Mund waren eindeutig die seines Vaters.

 

Ich machte mich auf eine fette Standpauke gefasst, auf Vorwürfe. Auf Fragen, etwa, wie ich mich auf so jemanden wie Erich hatte einlassen können.

 

Doch nichts dergleichen geschah.

 

Mein Vater saß still neben mir, und ich wusste nichtmal, ob er eine Antwort von mir erwartete, die er ja sowieso schon kannte.

"Daddy?", sagte ich dann nach einiger Zeit.

"Ja?"

"Ich habe damals einen Fehler gemacht, aber Sven zu bekommen, war trotz allem ein Geschenk. Und er kann nichts für seinen Vater, er soll ihn auch niemals kennenlernen. Sollte er irgendwann einmal nach seinem leiblichen Vater fragen, so werde ich ihm sagen, dass sein Vater immer auf Reisen ist, was der Wahrheit ja ziemlich nahe kommt. Erich futtert sich ja überall durch". Ja, so würde ich es machen. Er sollte wissen, dass Manu nicht sein richtiger Vater war, denn jeder hatte ein Recht, das zu wissen. Auch wenn ich es gerne anders gehabt hätte. Aber was ich mit Händen und Füßen verhindern würde war ein Treffen zwischen Sven und Erich. Sollte sich Erich irgendwann einmal an mich und sein Kind erinnern können und Kontakt suchen, was ich weder glaubte noch hoffte, so würde ich ihn zurückweisen. Und am besten gleich zum Teufel schicken.

"Weißt du Liebes, du musst dich gar nicht rechtfertigen. Ich bin mir nämlich sicher, dass du deine Gründe für ein Zusammensein mit Erich hattest, auch wenn wir anderen das nicht nachvollziehen können. Anders sehe es aus, wenn dir dieser Kerl etwas angetan hat. Dann nämlich werde ich ihn suchen und zu Kleinholz machen, das kannst du mir glauben!". Nun sah er mich mit zusammengezogenen Augenbrauen fragend an und ich glaubte ihm sofort, dass er das tatsächlich machen würde.

"Nein, keine Sorge, soetwas hätte er wohl nicht getan. Das war schon alles... ganz freiwillig", stotterte ich. Mir war das wirklich unangenehm und meinem Vater fiel das auch auf, deshalb sagte er plötzlich:

"Auf was hast du denn heute Appetit? Was kann ich für dich und die zwei Untermieter kochen?". Ich schmunzelte und überlegte nicht lange. Schon den ganzen Tag hatte ich so Gelüste nach irgendetwas Fruchtigem gehabt.

"Wenn es keine Umstände macht, hätte ich gerne deine Fruchtpastete", antwortete ich dann, und schon bei dem Gedanken an Vaters leckere Pastete floss mir das Wasser im Munde zusammen.

"Ist schon so gut wie fertig", sagte mein Vater, stand auf und ging schon ein paar Schritte Richtung Küche vor, als er sich noch einmal herumdrehte und sagte:

"Ich bin froh, dass wir darüber geredet haben". Damit meinte er eindeutig die Sache mit Erich, und nicht die Frage nach dem Mittagessen. Und da ich mich nun mit dem Wissen, dass auch das kein Geheimnis mehr zwischen mir und meinen Eltern war, nun doch erleichtert fühlte, sagte ich:

"Ja, ich auch". Mein Vater lächelte und ging dann in die Küche, um mein Wunschgericht für mich zu kochen.

Emmanuel ließ es sich nicht nehmen, in Schwangerschaftsbüchern zu lesen, um vorbereitet zu sein, wie er sagte. Ich versicherte ihm, dass er das auch so schaffen würde, ich wäre ja auch noch da, doch davon wollte er nichts wissen. Er wollte schließlich bei der Geburt anwesend sein und da er das noch nie erlebt hätte, im Gegensatz zu mir, müsste er doch lesen, um wenigstens ein bißchen Ahnung haben. Einen Geburstvorbereitungskurs konnten wir ja leider nicht zusammen besuchen, da er es nicht pünktlich zum Kurs schaffen würde, hier in Sunset Valley zu sein.

Aber ich hatte trotzdem die beste Betreuung, die man sich wünschen konnte. Mein hauseigener Arzt machte sogar kostenlose Hausbesuche für mich.

 

Onkel Johannes hatte es sich nicht nehmen lassen, immer wieder persönlich nach den Zwillingen zu sehen. Er war zwar kein Gynäkologe sondern Chirurg, doch die Herztöne konnte er natürlich trotzdem abhören und auch sehen, ob bei mir alles in Ordnung war. Zusammen mit den regelmäßigen Besuchen bei meiner Frauenärztin fühlt ich mich also rundum gut versorgt.

Da Manu darauf bestand, dass ich kürzer trat, um mich und die Zwillinge zu schonen, hatte ich urplötzlich wieder mehr Zeit um an meinen Romanen zu arbeiten. Es war herrlich! Und als ich so wieder vor dem PC saß und in Ruhe schrieb, bemerkte ich erst, wie sehr mir das gefehlt hatte.

Eine andere Sache belastete mich und auch Emmanuel dafür umso mehr: Wir hatten keinen gemeinsamen Haushalt und würden bald Zwillinge bekommen.

 

Wir waren zwar meist irgendwo zusammen, entweder er bei mir oder ich bei ihm, aber wir hatten kein gemeinsames Zuhause. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr entfernte sich die Lösung für dieses Problem. Es wäre nur logisch, wenn ich zu Emmanuel ziehen würde. Er lebte allein in einem recht großen Haus, dieses Haus stand in der Stadt, in der wir beide arbeiteten. Sven war noch klein genug und würde einen Umzug sicher noch ganz gut wegstecken.

 

Ja, das wäre logisch. Aber ich fühlte mich überhaupt nicht gut dabei, Sunset Valley zu verlassen, keine Ahnung, weshalb.

Wenn ich bedachte, dass ich hier auch schon mehr als genug negative Erlebnisse hatte, müsste es mich doch eigentlich sogar von hier wegziehen. Aber so war es nicht. Ich hing total an Sunset Valley, hier war meine Heimat. Das fiel mir erst jetzt, da ich praktisch kurz davor stand umzuziehen, erst richtig auf.

Auch in den nächsten Tagen belastete mich dieses Problem sehr. An Schreiben war mal wieder nicht zu denken, also tat ich etwas, was ich schon lange nicht mehr gemacht hatte: Ich malte. Ich ging an meinen Lieblingsplatz, das Fleckchen Erde, wo ich mich vor allem vor Emmanuels Zeit so häufig aufgehalten hatte. Alles hier war mit Erinnerungen verbunden, sogar der Geruch und deshalb fühlte ich mich augenblicklich wohler, auch wenn sich so meine Probleme nicht lösen ließen.

 

Es war noch nichts genaues entschieden, aber ich dachte mir, dass auch Emmanuel zu dem Schluss gekommen sein musste, dass ich zu ihm ziehen würde. Anders ging es ja eigentlich auch gar nicht. Oder wollte ich etwa, dass Manu jeden Tag die einfache Strecke von zweieinhalb Stunden mit dem Auto fahren musste, nur weil ich mich zierte, in die Hauptstadt zu ziehen?

Ich war ganz in meiner Malerei versunken, als plötzlich Emmanuels Stimme neben mir sagte:

"Megara, Gott sei Dank! Ich habe dich schon überall gesucht!". Ich schrak herum und sah Manu etwas außer Atem neben mir stehen.

"Manu! Was machst du denn hier? Ich dachte, du bleibst heute in Sim City?", fragte ich ihn verblüfft.

"Ja, das wäre ich auch geblieben, aber als ich dich nicht auf dem Handy erreicht habe, habe ich mir solche Sorgen gemacht, dass ich hergefahren bin. Sam hat mir dann gesagt, wo ich dich finden kann". Das Handy? Aber ich hatte es doch dabei! Ich hatte mein Handy immer dabei, damit mich Manu immer erreichen konnte, oder umgekehrt. Ich nahm es zur Hand und sah nach. Verflixt, ich hatte vergessen, den Akku zu laden! Das Ding funktionierte einfach nicht mehr!

"Oh", sagte ich dann nur und Manu verstand sofort.

"Stimmt es also, was man über die Vergesslichkeit und schwangere Frauen sagt", grinste er nun schon wieder.

"Tut mir leid, dass du dir nur deshalb solche Sorgen machen musstest", entschuldigte ich mich bei ihm.

"Mache dir keine Gedanken", sagte er und nahm mich in den Arm. Ich umklammerte ihn fest, hielt ihn - viel länger als sonst. Ihn jetzt zu spüren tat mir gut, und dann öffneten sich die Schleusen und ich begann zu weinen. Ich konnte es nicht aufhalten, es geschah einfach, und Manu reagierte sofort sehr erschrocken.

"Meg, mein Schatz, was ist los? Stimmt etwas nicht?", wollte er von mir wissen.

Ich versuchte, mich zu beruhigen, bevor ich antwortete:

"Ich bin so blöd, ganz echt. Dieser Gefühlsausbruch - schieben wir es am besten auf die Hormone. Ich sollte mich nicht aufregen, nicht dann, wenn ich nur zu meinem Freund in eine andere Stadt ziehen werde".

"Hast du Angst vor dem Umzug?", fragte Manu sofort. Ich antwortete nicht gleich. Wie hörte sich das auch an, wenn ich ihm sagte, dass ich nicht zu ihm ziehen wollte? So konnte man das ja auch nicht sagen, denn ich würde liebend gerne mit ihm zusammenwohnen. Eben nur nicht in der Großstadt.

"Weißt du", begann ich deshalb, "ich möchte mit dir zusammenleben. Das würde ich auch wollen, wenn ich nicht schwanger wäre. Aber ich habe die Befürchtung, dass ich mich in Sim City nicht wohl fühlen werde, weil es eine Großstadt ist. Verstehst du? Das hat nicht das Geringste mit dir zu tun".

"Jetzt verstehe ich", sagte er erleichtert. "Du hast ja in den letzten Tagen immer wieder mal solche Andeutungen gemacht, ob du nach Sim City passen wirst und so etwas. Ich habe bemerkt, dass es dir nicht gut bei dem Gedanken ging. Natürlich habe ich mich gefragt, ob das auch an mir liegen könnte, aber wenn du sagst, es ist nur wegen Sim City, dann bin ich nun auch beruhigt. Aber ich habe mir etwas überlegt".

"Natürlich liegt es nicht an dir!", versicherte ich ihm.

"Gut, dann höre dir meinen Vorschlag an: Ich werde zu dir hierherziehen, und...", ich unterbrach ihn sofort.

"Das ist verrückt, Manu! Ich möchte nicht, dass du diesen Stress wegen der langen Autofahrt hast, und das täglich!". Das kam gar nicht in Frage! Ich würde mich schon einleben, die Umgebung von Sim City war schließlich auch sehr schön, es lag am Meer wie Sunset Valley - was wollte ich eigentlich mehr?

"Ja, das geht natürlich schlecht, aber ich habe eine Lösung: Tatjana wohnt in einer Mietwohnung, und das, was sie so erzählt, ist ihr Vermieter ein schleimiger Spanner, der ihr gerne mal nachstellt. Ich weiß, dass sie sich schon eine ganze Weile was Neues sucht. Na, da kommt doch mein Haus gerade recht! Wenn Tatjana dann dort wohnt, könnte ich ein-, zweimal die Woche dort schlafen und müsste nicht immer hin- und herfahren. Andere Männer sind auch oft tagelang beruflich unterwegs. Tatjana hätte endlich Ruhe vor ihrem Vermieter, ich wäre bei dir, du müsstest dir keine Sorgen wegen eines Umzuges machen, Sven könnte in seiner gewohnten Umgebung bleiben, und auch für deine Eltern würde sich fast nichts ändern abgesehen von der Tatsache, dass ich fest einziehen würde. Na, wie klingt das?", fragte er nicht ohne Stolz in der Stimme. Ich sah ihn bewundernd an. Was für ein Mann!

"Habe ich dir heute eigentlich schon gesagt, dass ich dich liebe?", fragte ich ihn nur und er lächelte mich an.

"Nein, ich glaube nicht", sagte er.

"Das tue ich aber", sagte ich und küsste ihn.

 

Da sich Tatjana wie ein Honigkuchenpferd darüber gefreut hatte, nun in dem Haus ihres Bruders wohnen zu können, zog Manu dann schon bald darauf nach Sunset Valley.

Da ich bei Svens Geburt aufgrund meines schmalen Beckens so große Probleme gehabt hatte, hatte meine Frauenärztin den Vorschlag gemacht, die Zwillinge durch einen geplanten Kaiserschnitt auf die Welt zu holen. Damit waren Manu und ich auch einverstanden. Ich konnte mich nur zu gut an die schmerzhafte Saugglockengeburt von Sven erinnern und musste das wahrhaftig nicht noch einmal haben.

 

Zwei Wochen vor dem errechneten Entbindungstermin war der Kaiserschnitt angesetzt, und zwei Tage vor der Geburt hatten Emmanuel und ich uns den Picknickkorb geschnappt und uns nochmal in den Park gesetzt. Wir würden wohl in Zukunft eine Weile nicht mehr so einfach picknicken können.

"Na, ihr zwei?", sprach Manu wieder mal mit meinem Bauch, "Wir können es überhaupt nicht abwarten, bis ihr da seid". Er war echt so lieb, dass ich mich täglich neu in meinen wunderbaren Freund verliebte.

"Zwei Tage noch, Manu", sagte ich und war selbst ein bißchen aufgeregt, was ja nur natürlich war. Ich wollte die beiden nun auch endlich sehen, wollte wissen, was sie für ein Geschlecht hatten, denn das hatten wir uns nicht sagen lassen.

"Ich weiß, aber ich finde, das die letzten Stunden die sind, die sich nun schon ewig dehen. Kommt es dir nicht auch so vor? Dreht sich der Zeiger eigentlich noch auf meiner Uhr oder ist sie stehengeblieben?". Er lauschte theatralisch an seiner Uhr und ich lachte los.

"Und? Tickt sie noch?"

"Komischerweise ja", antwortete Emmanuel.

Zwei Tage später fuhr mich Emmanuel dann schon frühmorgens in die Klinik. Ich würde wohl die erste im OP sein und deshalb war frühes Aufstehen angesagt.

 

Da ich einen geplanten Kaiserschnitt hatte, hatte ich keine Vollnarkose, außerdem konnte Manu mit in den OP und bei der Geburt seiner Kinder dabei sein. Als ich dort auf dem OP-Tisch lag, schlich sich doch ein wenig Angst in meine Glieder. Doch eine sehr nette OP-Schwester beruhigte mich und sagte, dass ich in ein paar Minuten meine Kinder sehen könnte.

 

Emmanuel vermied den Blick hinter das grüne Tuch, das vor mir gespannt war, und stand die ganze Zeit neben mir. Wir sprachen sogar miteinander, Manu erzählte mir, was gerade gemacht wurde, soweit er das beurteilen konnte.

 

Und dann, wirklich nach kurzer Zeit, schrie das erste Baby empört auf, als es aus seiner kuscheligen Höhle geholt wurde. Und während dem zweiten Baby auf die Welt geholfen wurde, wickelte man unser erstes in eine grüne OP-Decke und brachte es uns vor. Wir sahen zum ersten mal unserer Tochter ins Gesicht. Der Moment überwältigte mich sehr. Doch noch bevor wir sie in Ruhe betrachtet hatten, hörte man auch schon das zweite Kind, welches wir ebenso schon gleich darauf zu sehen bekamen. Unsere zweite Tochter. Zwei Mädchen!

 

"Oh Gott, das ist so großartig!", stammelte Manu und bekam die Ältere in die Arme gelegt. Und da wir alle Möglichkeiten von den Namen her durchgespielt hatten, war klar, wen er da im Arm hielt. Madeleine von Hohenstein. Eine der OP-Schwestern hielt mir unsere Viola hin, damit ich sie nochmal genau ansehen konnte, während ich unten schon wieder vernäht wurde.

 

 

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